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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Unsre Reserveoffiziere

cum der Kulturhistoriker das gesellschaftliche Leben eines bestimmten
Zeitraumes schildern will, so sucht er vor allen Dingen aus der
verwirrenden Mannigfaltigkeit der Erscheinungen besondre Ge¬
stalten herauszuheben, in denen sich die Eigentümlichkeiten der
ganzen Zeitrichtung zu einem Gesamtbilde vereinigt haben. Ein
solcher Typus ist für das Ende des vorigen Jahrhunderts die vielsagende
Werthergestalt, für die Zeit der Befreiungskriege der freiwillige Jäger, für
die dreißiger Jahre unsers Jahrhunderts der romantisch angehauchte Burschen¬
schafter und für die fünfziger Jahre in gewisser Hinsicht der alte Korpsstudent;
und hätte man keine audern Quellen, aus denen man diese gesellschaftlichen
Vorbilder entlehnen könnte, als die schöngeistige Litteratur der betreffenden
Jahrzehnte, so würden sie vollständig ausreichen, unsre Behauptung zu be¬
kräftigen. Die Werthergestalt, der freiwillige Jäger, der junge Burschenschafter
und der alte Korpsstudent, sie alle sind echt deutsche Typen, in denen sich
das geistige und sittliche Leben früherer Tage mit allen Hoffnungen und Be¬
strebungen, mit allen Lichtseiten und Verirrungen unverkennbar abgespiegelt hat.

Hat die Gegenwart eine ühuliche Gestalt hervorgebracht? Finden wir
eine Erscheinung, in der sich die charakteristischen Züge unsrer Zeit verkörpert
haben? Ein französischer Litterarhistoriker glaubt in dem "Privatdozenten"
die Figur entdeckt zu haben, die für das gegenwärtige Deutschland von typischer
Bedeutung sei; und wenn man in deu Universitätsberichten die stattliche Zahl
junger Gelehrten sieht, wenn mau sich ihren unzweifelhaften Einfluß auf die
Wissenschaft und Litteratur vergegenwärtigt, fo kann man wohl die Ansicht
des Franzosen erklärlich finden, aber für richtig wird sie niemand halten.
Mit demselben Rechte könnte man die Gegenwart das Zeitalter des jungen


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Unsre Reserveoffiziere

cum der Kulturhistoriker das gesellschaftliche Leben eines bestimmten
Zeitraumes schildern will, so sucht er vor allen Dingen aus der
verwirrenden Mannigfaltigkeit der Erscheinungen besondre Ge¬
stalten herauszuheben, in denen sich die Eigentümlichkeiten der
ganzen Zeitrichtung zu einem Gesamtbilde vereinigt haben. Ein
solcher Typus ist für das Ende des vorigen Jahrhunderts die vielsagende
Werthergestalt, für die Zeit der Befreiungskriege der freiwillige Jäger, für
die dreißiger Jahre unsers Jahrhunderts der romantisch angehauchte Burschen¬
schafter und für die fünfziger Jahre in gewisser Hinsicht der alte Korpsstudent;
und hätte man keine audern Quellen, aus denen man diese gesellschaftlichen
Vorbilder entlehnen könnte, als die schöngeistige Litteratur der betreffenden
Jahrzehnte, so würden sie vollständig ausreichen, unsre Behauptung zu be¬
kräftigen. Die Werthergestalt, der freiwillige Jäger, der junge Burschenschafter
und der alte Korpsstudent, sie alle sind echt deutsche Typen, in denen sich
das geistige und sittliche Leben früherer Tage mit allen Hoffnungen und Be¬
strebungen, mit allen Lichtseiten und Verirrungen unverkennbar abgespiegelt hat.

Hat die Gegenwart eine ühuliche Gestalt hervorgebracht? Finden wir
eine Erscheinung, in der sich die charakteristischen Züge unsrer Zeit verkörpert
haben? Ein französischer Litterarhistoriker glaubt in dem „Privatdozenten"
die Figur entdeckt zu haben, die für das gegenwärtige Deutschland von typischer
Bedeutung sei; und wenn man in deu Universitätsberichten die stattliche Zahl
junger Gelehrten sieht, wenn mau sich ihren unzweifelhaften Einfluß auf die
Wissenschaft und Litteratur vergegenwärtigt, fo kann man wohl die Ansicht
des Franzosen erklärlich finden, aber für richtig wird sie niemand halten.
Mit demselben Rechte könnte man die Gegenwart das Zeitalter des jungen


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[0401] [Abbildung] Unsre Reserveoffiziere cum der Kulturhistoriker das gesellschaftliche Leben eines bestimmten Zeitraumes schildern will, so sucht er vor allen Dingen aus der verwirrenden Mannigfaltigkeit der Erscheinungen besondre Ge¬ stalten herauszuheben, in denen sich die Eigentümlichkeiten der ganzen Zeitrichtung zu einem Gesamtbilde vereinigt haben. Ein solcher Typus ist für das Ende des vorigen Jahrhunderts die vielsagende Werthergestalt, für die Zeit der Befreiungskriege der freiwillige Jäger, für die dreißiger Jahre unsers Jahrhunderts der romantisch angehauchte Burschen¬ schafter und für die fünfziger Jahre in gewisser Hinsicht der alte Korpsstudent; und hätte man keine audern Quellen, aus denen man diese gesellschaftlichen Vorbilder entlehnen könnte, als die schöngeistige Litteratur der betreffenden Jahrzehnte, so würden sie vollständig ausreichen, unsre Behauptung zu be¬ kräftigen. Die Werthergestalt, der freiwillige Jäger, der junge Burschenschafter und der alte Korpsstudent, sie alle sind echt deutsche Typen, in denen sich das geistige und sittliche Leben früherer Tage mit allen Hoffnungen und Be¬ strebungen, mit allen Lichtseiten und Verirrungen unverkennbar abgespiegelt hat. Hat die Gegenwart eine ühuliche Gestalt hervorgebracht? Finden wir eine Erscheinung, in der sich die charakteristischen Züge unsrer Zeit verkörpert haben? Ein französischer Litterarhistoriker glaubt in dem „Privatdozenten" die Figur entdeckt zu haben, die für das gegenwärtige Deutschland von typischer Bedeutung sei; und wenn man in deu Universitätsberichten die stattliche Zahl junger Gelehrten sieht, wenn mau sich ihren unzweifelhaften Einfluß auf die Wissenschaft und Litteratur vergegenwärtigt, fo kann man wohl die Ansicht des Franzosen erklärlich finden, aber für richtig wird sie niemand halten. Mit demselben Rechte könnte man die Gegenwart das Zeitalter des jungen Grenzlwtcn IV 188» 5s>

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/401>, abgerufen am 23.06.2024.