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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Karl Philipp Moritz als Romanschriststeller
von Alfred Heil

eit einiger Zeit läßt M) für Karl Philipp Moritz, den man
früher mir ans Goethes Leben oder allenfalls noch als Ver¬
fasser der "Götterlehre der Griechen und Römer" kannte, eine
erhöhte Teilnahme wahrnehmen. Es ist schwer zu sagen, auf
welchem Gebiete dieser vielseitige Schriftsteller sein Hauptverdienst
hat, Seine Pläne, eine neue Theorie der schönen Künste und Wissenschaften,
ein großes psychologisches Werk, eine mustergiltige Zeitschrift zu schaffen, find
alle'bedeutsam, und besonders zahlreich sind seine grammatischen Arbeiten,
sodaß Klischnig sagt: "Am meisten verdankt ihm die Ausbildung unsrer Mutter¬
sprache."'-) Wenn um im folgenden nichts von alledem hervorgehoben, sondern
Moritz als Romanschriftsteller gewürdigt werden soll, so braucht man trotzdem
nicht zu besorgen, daß damit etwas Nebensächliches und Unbedeutendes heraus¬
gegriffen werde. Vielmehr haben wir es hier mit denjenigen Werken Moritzens
zu thun, die am eigenartigsten und anziehendsten sind.

Gleich der erste und wichtigste seiner Romane, sein "Anton Reiser," ist
freilich keine eigentliche Dichtung, sondern eine versteckte Selbstbiographie, ja
sogar eine sehr wahrheitsgetreue und geschichtlich zuverlässige Selbstbiographie,
die sich bloß Roman nennt, ohne in der Erzählung der einzelnen Ereignisse
irgendwie von der Wirklichkeit abzuweichen. Aber wie z. B. Goethes "Dich¬
tung und Wahrheit" zeigt, sind die Grenzen zwischen freiem Schaffen der
Phantasie und geschichtlichem Berichterstatter nicht immer fest, und überhaupt
gehört "Anton Reiser" zu denjenigen Schriften, die mehr als einer Rubrik
zufallen können. Als Kunstwerk ist dieser "psychologische Roman" schon wegen
seiner klassischen Darstellung zu betrachten. Sein Schöpfer zeigt sich hier als
sprachgewaltigen Meister im Erzählen. Und ist nicht Moritzens Leben an und
für sich romanhaft? Ist nicht der Held dieses Memoiren Werkes ein förmlicher
Rvmanheld, als solcher noch in der Charakteristik, die Klischnig von dem
Dahingeschiednen giebt, erkennbar? Daß Moritz aber soviel Selbstbiographisches



Klischnig, Erinnerungen aus den zehn letzten Lebensjahren meines Freundes Anton
Reiser (auch uuter dem Titel Anton Reiser, fünfter und letzter Teil). Berlin, 1794.


Karl Philipp Moritz als Romanschriststeller
von Alfred Heil

eit einiger Zeit läßt M) für Karl Philipp Moritz, den man
früher mir ans Goethes Leben oder allenfalls noch als Ver¬
fasser der „Götterlehre der Griechen und Römer" kannte, eine
erhöhte Teilnahme wahrnehmen. Es ist schwer zu sagen, auf
welchem Gebiete dieser vielseitige Schriftsteller sein Hauptverdienst
hat, Seine Pläne, eine neue Theorie der schönen Künste und Wissenschaften,
ein großes psychologisches Werk, eine mustergiltige Zeitschrift zu schaffen, find
alle'bedeutsam, und besonders zahlreich sind seine grammatischen Arbeiten,
sodaß Klischnig sagt: „Am meisten verdankt ihm die Ausbildung unsrer Mutter¬
sprache."'-) Wenn um im folgenden nichts von alledem hervorgehoben, sondern
Moritz als Romanschriftsteller gewürdigt werden soll, so braucht man trotzdem
nicht zu besorgen, daß damit etwas Nebensächliches und Unbedeutendes heraus¬
gegriffen werde. Vielmehr haben wir es hier mit denjenigen Werken Moritzens
zu thun, die am eigenartigsten und anziehendsten sind.

Gleich der erste und wichtigste seiner Romane, sein „Anton Reiser," ist
freilich keine eigentliche Dichtung, sondern eine versteckte Selbstbiographie, ja
sogar eine sehr wahrheitsgetreue und geschichtlich zuverlässige Selbstbiographie,
die sich bloß Roman nennt, ohne in der Erzählung der einzelnen Ereignisse
irgendwie von der Wirklichkeit abzuweichen. Aber wie z. B. Goethes „Dich¬
tung und Wahrheit" zeigt, sind die Grenzen zwischen freiem Schaffen der
Phantasie und geschichtlichem Berichterstatter nicht immer fest, und überhaupt
gehört „Anton Reiser" zu denjenigen Schriften, die mehr als einer Rubrik
zufallen können. Als Kunstwerk ist dieser „psychologische Roman" schon wegen
seiner klassischen Darstellung zu betrachten. Sein Schöpfer zeigt sich hier als
sprachgewaltigen Meister im Erzählen. Und ist nicht Moritzens Leben an und
für sich romanhaft? Ist nicht der Held dieses Memoiren Werkes ein förmlicher
Rvmanheld, als solcher noch in der Charakteristik, die Klischnig von dem
Dahingeschiednen giebt, erkennbar? Daß Moritz aber soviel Selbstbiographisches



Klischnig, Erinnerungen aus den zehn letzten Lebensjahren meines Freundes Anton
Reiser (auch uuter dem Titel Anton Reiser, fünfter und letzter Teil). Berlin, 1794.
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[0279] [Abbildung] Karl Philipp Moritz als Romanschriststeller von Alfred Heil eit einiger Zeit läßt M) für Karl Philipp Moritz, den man früher mir ans Goethes Leben oder allenfalls noch als Ver¬ fasser der „Götterlehre der Griechen und Römer" kannte, eine erhöhte Teilnahme wahrnehmen. Es ist schwer zu sagen, auf welchem Gebiete dieser vielseitige Schriftsteller sein Hauptverdienst hat, Seine Pläne, eine neue Theorie der schönen Künste und Wissenschaften, ein großes psychologisches Werk, eine mustergiltige Zeitschrift zu schaffen, find alle'bedeutsam, und besonders zahlreich sind seine grammatischen Arbeiten, sodaß Klischnig sagt: „Am meisten verdankt ihm die Ausbildung unsrer Mutter¬ sprache."'-) Wenn um im folgenden nichts von alledem hervorgehoben, sondern Moritz als Romanschriftsteller gewürdigt werden soll, so braucht man trotzdem nicht zu besorgen, daß damit etwas Nebensächliches und Unbedeutendes heraus¬ gegriffen werde. Vielmehr haben wir es hier mit denjenigen Werken Moritzens zu thun, die am eigenartigsten und anziehendsten sind. Gleich der erste und wichtigste seiner Romane, sein „Anton Reiser," ist freilich keine eigentliche Dichtung, sondern eine versteckte Selbstbiographie, ja sogar eine sehr wahrheitsgetreue und geschichtlich zuverlässige Selbstbiographie, die sich bloß Roman nennt, ohne in der Erzählung der einzelnen Ereignisse irgendwie von der Wirklichkeit abzuweichen. Aber wie z. B. Goethes „Dich¬ tung und Wahrheit" zeigt, sind die Grenzen zwischen freiem Schaffen der Phantasie und geschichtlichem Berichterstatter nicht immer fest, und überhaupt gehört „Anton Reiser" zu denjenigen Schriften, die mehr als einer Rubrik zufallen können. Als Kunstwerk ist dieser „psychologische Roman" schon wegen seiner klassischen Darstellung zu betrachten. Sein Schöpfer zeigt sich hier als sprachgewaltigen Meister im Erzählen. Und ist nicht Moritzens Leben an und für sich romanhaft? Ist nicht der Held dieses Memoiren Werkes ein förmlicher Rvmanheld, als solcher noch in der Charakteristik, die Klischnig von dem Dahingeschiednen giebt, erkennbar? Daß Moritz aber soviel Selbstbiographisches Klischnig, Erinnerungen aus den zehn letzten Lebensjahren meines Freundes Anton Reiser (auch uuter dem Titel Anton Reiser, fünfter und letzter Teil). Berlin, 1794.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/279>, abgerufen am 23.06.2024.