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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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Die Insel^organisation von i" nunisteriellcr Beleuchtung

Es Wäre ein viel größeres Glück gewesen, wenn wir eine Zivilproze߬
ordnung erhalten hätten, die ebenso anspruchslos und unscheinbar durchs Leben
gegangen wäre wie die frühern. Das deutsche Volk würde sich dabei weit
besser gestanden haben. Nichts aber ist bezeichnender für die Stellung, die der
Herr Minister oder seine Berater zu der ganzen Sachlage einnehmen, als dieses
Lobpreisen der Prozeßordnung wegen der daraus entwickelten Wissenschaft.*)


8

Die Berichte haben bei ihrer Darstellung offenbar nur die landgerichtlicheu
Sachen vor Auge" gehabt. Es verdienen aber auch die nmtsgerichtlichen Sachen
(bis zu MO Mark Wert) nicht vergessen zu werden, da sie 88 Prozent aller
Prozesse umfassen. In ihnen treten die Fehler des Verfahrens vielleicht noch
stärker hervor als in den landgerichtlichen Sachen.

Das Verfahren bei den Amtsgerichten ist eigentlich darauf berechnet, daß
die Parteien selbst ihren Prozeß führen. Nun ist aber dieses Verfahren zu¬
folge des den Parteien auferlegten "Selbstbetriebes" so mit Formalitäten be¬
lastet, daß der gemeine Mann sich unmöglich hineinfinden kaun. Er riskirt
stets, über eine solche Formalität seinen Prozeß zu verlieren oder sonst Schaden
zu leiden, zumal wenn ihm ein rechtsgewandter Gegner gegenübersteht. Er
wird also förmlich dazu gedrängt, einen Anwalt anzunehmen oder sich einem Winkel¬
advokaten in die Arme zu werfen. Nimmt er aber einen Anwalt an, so entstehen
leicht Kosten, die den Streitgegenstand in mehrfacher Verdoppelung auffressen.

Bei Erlaß der Prozeßordnung nahm man an, daß die Sachen von den
Amtsgerichten in der Regel in einem oder zwei Terminen erledigt würden.
Das geschieht aber nur in den wenigsten Fällen. Die Sachen laufen oft durch
sechs, acht, zehn und mehr Termine hindurch. Stets müssen die Parteien zur
"Verhandlung" erscheinen. Sonst bricht alsbald ein Kvntnmazialnrteil über
sie herein. Von dem aber, was verhandelt wird, kommt nichts in die Akten.
Es wird nur registrirt: "Wurde zur Sache verhandelt." Der ganze Prozeß
schwebt also, mitunter viele Monate hindurch, in der Luft. Beweise werden
gefordert, Zeugen werden vernommen, Eide werden geschworen, und niemand
kann aus den Akten ersehen, was die zu Beweis gestellten, bezeugten und be-
schworner Thatsachen bedeuten. Endlich, wenn der Richter die Sache für
spruchreif hält, schreibt er das, was er aus allen Verhandlungen im Kopfe
behalten oder vielleicht mit Bleistift sich notirt hat, als "Thatbestand" in das
Urteil hinein und giebt darnach seine Entscheidung. So, wenn der Richter
der nämliche bleibt. Wechselt er aber im Laufe des Prozesses, was ja auch
oft vorkommt, so ist alles bisher Verhandelte für den neuen Richter nicht



Seelenverwandt ist der Ausspruch eines mich als Prosaschriftsteller bewährten Ber¬
liner Anwaltes in der Juristischen Gesellschaft: er finde den Hauptwerk des neuen Prozesses
darin, daß er weit tüchtigere und schlagfertigere Anwälte ausbilde.
Die Insel^organisation von i" nunisteriellcr Beleuchtung

Es Wäre ein viel größeres Glück gewesen, wenn wir eine Zivilproze߬
ordnung erhalten hätten, die ebenso anspruchslos und unscheinbar durchs Leben
gegangen wäre wie die frühern. Das deutsche Volk würde sich dabei weit
besser gestanden haben. Nichts aber ist bezeichnender für die Stellung, die der
Herr Minister oder seine Berater zu der ganzen Sachlage einnehmen, als dieses
Lobpreisen der Prozeßordnung wegen der daraus entwickelten Wissenschaft.*)


8

Die Berichte haben bei ihrer Darstellung offenbar nur die landgerichtlicheu
Sachen vor Auge» gehabt. Es verdienen aber auch die nmtsgerichtlichen Sachen
(bis zu MO Mark Wert) nicht vergessen zu werden, da sie 88 Prozent aller
Prozesse umfassen. In ihnen treten die Fehler des Verfahrens vielleicht noch
stärker hervor als in den landgerichtlichen Sachen.

Das Verfahren bei den Amtsgerichten ist eigentlich darauf berechnet, daß
die Parteien selbst ihren Prozeß führen. Nun ist aber dieses Verfahren zu¬
folge des den Parteien auferlegten „Selbstbetriebes" so mit Formalitäten be¬
lastet, daß der gemeine Mann sich unmöglich hineinfinden kaun. Er riskirt
stets, über eine solche Formalität seinen Prozeß zu verlieren oder sonst Schaden
zu leiden, zumal wenn ihm ein rechtsgewandter Gegner gegenübersteht. Er
wird also förmlich dazu gedrängt, einen Anwalt anzunehmen oder sich einem Winkel¬
advokaten in die Arme zu werfen. Nimmt er aber einen Anwalt an, so entstehen
leicht Kosten, die den Streitgegenstand in mehrfacher Verdoppelung auffressen.

Bei Erlaß der Prozeßordnung nahm man an, daß die Sachen von den
Amtsgerichten in der Regel in einem oder zwei Terminen erledigt würden.
Das geschieht aber nur in den wenigsten Fällen. Die Sachen laufen oft durch
sechs, acht, zehn und mehr Termine hindurch. Stets müssen die Parteien zur
„Verhandlung" erscheinen. Sonst bricht alsbald ein Kvntnmazialnrteil über
sie herein. Von dem aber, was verhandelt wird, kommt nichts in die Akten.
Es wird nur registrirt: „Wurde zur Sache verhandelt." Der ganze Prozeß
schwebt also, mitunter viele Monate hindurch, in der Luft. Beweise werden
gefordert, Zeugen werden vernommen, Eide werden geschworen, und niemand
kann aus den Akten ersehen, was die zu Beweis gestellten, bezeugten und be-
schworner Thatsachen bedeuten. Endlich, wenn der Richter die Sache für
spruchreif hält, schreibt er das, was er aus allen Verhandlungen im Kopfe
behalten oder vielleicht mit Bleistift sich notirt hat, als „Thatbestand" in das
Urteil hinein und giebt darnach seine Entscheidung. So, wenn der Richter
der nämliche bleibt. Wechselt er aber im Laufe des Prozesses, was ja auch
oft vorkommt, so ist alles bisher Verhandelte für den neuen Richter nicht



Seelenverwandt ist der Ausspruch eines mich als Prosaschriftsteller bewährten Ber¬
liner Anwaltes in der Juristischen Gesellschaft: er finde den Hauptwerk des neuen Prozesses
darin, daß er weit tüchtigere und schlagfertigere Anwälte ausbilde.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/134>, abgerufen am 21.12.2024.