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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

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fanden, die sie nebst dem weitschichtigen dazu gehörenden Material wissenschaftlich
bearbeiteten und dadurch die Anwendung des in seinem ganzen Bau so künst¬
lichen Gesetzes erleichterten. Diesen Dank wollten sich nun gar viele verdienen,
und so entstand eine höchst umfangreiche Prozeßlitteratur, unter der sich auch in
ihrer Art vorzügliche Werke finden. Daß aber die Prozeßordnung einen solchen
ungeheuern wissenschaftlichen Apparat notwendig machte, daß heute in unser":
Rechtsleben die Prvzeßfragen völlig überwuchern, sodaß alle Präjndizienbücher
zum dritte" Teile damit angefüllt sind, darin kann man doch nur von dem sehr
einseitigen Standpunkte des Juristen ein Glück finden. Wer dagegen in seinem
Juristen sich noch ein Stück Menschentum bewahrt hat, der muß diese Er¬
scheinung tief beklagen. Denn alle diese Prozeßfragen müssen ausgetrngeu
werden auf Gefahr der Parteien, die sie mit schweren Kosten zu büßen haben
und nicht selten darüber ihr gutes Recht verlieren. Läge wirklich in dieser
Entwicklung der Prozeßwissenschaft der Beweis, daß die Prozeßordnung ein
wertvolles nationales Gut sei, dann müßte man auch eine schwere, in nnserm
Volke heimisch gewordne Krankheit, weil sie der ärztlichen Wissenschaft eine
überaus fruchtbare Anregung gegeben, ein wertvolles nationales Gut nennen.

So viel über den außer" Wert dieser modernen Prozeßwissenschaft. Aber
much den innern vermag ich nicht hoch anzuschlagen. Zum größten Teile ist
sie nichts andres als eine klägliche Buchstabenjurisprudeuz, bei der von innerer
Gerechtigkeit kaum noch die Rede ist. Natürlich müssen die Prozeßfragen, wenn
sie einmal auftauchen, in der Praxis durchgekämpft werde". Daß es aber so
viele Juristen giebt, die anscheinend an diesen kläglichen Fragen eine besondre
Freude finden und sich mit einem Eifer darauf werfen, als gelte es hohen
wissenschaftlichen Zielen, das ist meines Erachtens nichts weniger als ein er¬
freuliches Zeichen der Zeit. Es war z. B. schon schlimm genug, daß über die
Frage, ob eine von der Partei selbst (nicht von ihrem Anwalt) dem Gerichts¬
vollzieher aufgetragne Zustellung giltig sei, das Reichsgericht beim Widerspruch
verschiedner Senate in einer Plenarsitzung (von etwa fünfzig ReichsgerichtS-
räten) beraten und entscheide" mußte. Glücklicherweise fiel die Entscheidung so
aus, wie sie auch der einfache Menschenverstand gegeben hätte. War es denn
aber nötig, so wie in den gedruckten Entscheidungen zu lesen ist, über die
Lösung dieses hochwisseuschaftlichen Problems die Welt in einer elf Seiten
laugen Abhandlung zu belehren?


Wen solche Lehren nicht erfreun,
Verdienet nicht ein Mensch zu sein!

möchte ma" da mit Sarastro, wenn auch nur ironisch, anstimme". Man
könnte fürwahr sich versucht fühlen, über dergleichen Dinge zu scherzen, wenn
es nicht so traurig wäre, daß heute in Deutschland von solchen Fragen das
Wohl oder Wehe der Rechtsuchenden abhängt.


Die Justizorganisaticm von ^3?9 ministerieller Beleuchtung

fanden, die sie nebst dem weitschichtigen dazu gehörenden Material wissenschaftlich
bearbeiteten und dadurch die Anwendung des in seinem ganzen Bau so künst¬
lichen Gesetzes erleichterten. Diesen Dank wollten sich nun gar viele verdienen,
und so entstand eine höchst umfangreiche Prozeßlitteratur, unter der sich auch in
ihrer Art vorzügliche Werke finden. Daß aber die Prozeßordnung einen solchen
ungeheuern wissenschaftlichen Apparat notwendig machte, daß heute in unser»:
Rechtsleben die Prvzeßfragen völlig überwuchern, sodaß alle Präjndizienbücher
zum dritte» Teile damit angefüllt sind, darin kann man doch nur von dem sehr
einseitigen Standpunkte des Juristen ein Glück finden. Wer dagegen in seinem
Juristen sich noch ein Stück Menschentum bewahrt hat, der muß diese Er¬
scheinung tief beklagen. Denn alle diese Prozeßfragen müssen ausgetrngeu
werden auf Gefahr der Parteien, die sie mit schweren Kosten zu büßen haben
und nicht selten darüber ihr gutes Recht verlieren. Läge wirklich in dieser
Entwicklung der Prozeßwissenschaft der Beweis, daß die Prozeßordnung ein
wertvolles nationales Gut sei, dann müßte man auch eine schwere, in nnserm
Volke heimisch gewordne Krankheit, weil sie der ärztlichen Wissenschaft eine
überaus fruchtbare Anregung gegeben, ein wertvolles nationales Gut nennen.

So viel über den außer» Wert dieser modernen Prozeßwissenschaft. Aber
much den innern vermag ich nicht hoch anzuschlagen. Zum größten Teile ist
sie nichts andres als eine klägliche Buchstabenjurisprudeuz, bei der von innerer
Gerechtigkeit kaum noch die Rede ist. Natürlich müssen die Prozeßfragen, wenn
sie einmal auftauchen, in der Praxis durchgekämpft werde». Daß es aber so
viele Juristen giebt, die anscheinend an diesen kläglichen Fragen eine besondre
Freude finden und sich mit einem Eifer darauf werfen, als gelte es hohen
wissenschaftlichen Zielen, das ist meines Erachtens nichts weniger als ein er¬
freuliches Zeichen der Zeit. Es war z. B. schon schlimm genug, daß über die
Frage, ob eine von der Partei selbst (nicht von ihrem Anwalt) dem Gerichts¬
vollzieher aufgetragne Zustellung giltig sei, das Reichsgericht beim Widerspruch
verschiedner Senate in einer Plenarsitzung (von etwa fünfzig ReichsgerichtS-
räten) beraten und entscheide» mußte. Glücklicherweise fiel die Entscheidung so
aus, wie sie auch der einfache Menschenverstand gegeben hätte. War es denn
aber nötig, so wie in den gedruckten Entscheidungen zu lesen ist, über die
Lösung dieses hochwisseuschaftlichen Problems die Welt in einer elf Seiten
laugen Abhandlung zu belehren?


Wen solche Lehren nicht erfreun,
Verdienet nicht ein Mensch zu sein!

möchte ma» da mit Sarastro, wenn auch nur ironisch, anstimme». Man
könnte fürwahr sich versucht fühlen, über dergleichen Dinge zu scherzen, wenn
es nicht so traurig wäre, daß heute in Deutschland von solchen Fragen das
Wohl oder Wehe der Rechtsuchenden abhängt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/133>, abgerufen am 28.06.2024.