Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Justizorganisaticm von ^3?9 ministerieller Beleuchtung

fanden, die sie nebst dem weitschichtigen dazu gehörenden Material wissenschaftlich
bearbeiteten und dadurch die Anwendung des in seinem ganzen Bau so künst¬
lichen Gesetzes erleichterten. Diesen Dank wollten sich nun gar viele verdienen,
und so entstand eine höchst umfangreiche Prozeßlitteratur, unter der sich auch in
ihrer Art vorzügliche Werke finden. Daß aber die Prozeßordnung einen solchen
ungeheuern wissenschaftlichen Apparat notwendig machte, daß heute in unser":
Rechtsleben die Prvzeßfragen völlig überwuchern, sodaß alle Präjndizienbücher
zum dritte" Teile damit angefüllt sind, darin kann man doch nur von dem sehr
einseitigen Standpunkte des Juristen ein Glück finden. Wer dagegen in seinem
Juristen sich noch ein Stück Menschentum bewahrt hat, der muß diese Er¬
scheinung tief beklagen. Denn alle diese Prozeßfragen müssen ausgetrngeu
werden auf Gefahr der Parteien, die sie mit schweren Kosten zu büßen haben
und nicht selten darüber ihr gutes Recht verlieren. Läge wirklich in dieser
Entwicklung der Prozeßwissenschaft der Beweis, daß die Prozeßordnung ein
wertvolles nationales Gut sei, dann müßte man auch eine schwere, in nnserm
Volke heimisch gewordne Krankheit, weil sie der ärztlichen Wissenschaft eine
überaus fruchtbare Anregung gegeben, ein wertvolles nationales Gut nennen.

So viel über den außer" Wert dieser modernen Prozeßwissenschaft. Aber
much den innern vermag ich nicht hoch anzuschlagen. Zum größten Teile ist
sie nichts andres als eine klägliche Buchstabenjurisprudeuz, bei der von innerer
Gerechtigkeit kaum noch die Rede ist. Natürlich müssen die Prozeßfragen, wenn
sie einmal auftauchen, in der Praxis durchgekämpft werde". Daß es aber so
viele Juristen giebt, die anscheinend an diesen kläglichen Fragen eine besondre
Freude finden und sich mit einem Eifer darauf werfen, als gelte es hohen
wissenschaftlichen Zielen, das ist meines Erachtens nichts weniger als ein er¬
freuliches Zeichen der Zeit. Es war z. B. schon schlimm genug, daß über die
Frage, ob eine von der Partei selbst (nicht von ihrem Anwalt) dem Gerichts¬
vollzieher aufgetragne Zustellung giltig sei, das Reichsgericht beim Widerspruch
verschiedner Senate in einer Plenarsitzung (von etwa fünfzig ReichsgerichtS-
räten) beraten und entscheide" mußte. Glücklicherweise fiel die Entscheidung so
aus, wie sie auch der einfache Menschenverstand gegeben hätte. War es denn
aber nötig, so wie in den gedruckten Entscheidungen zu lesen ist, über die
Lösung dieses hochwisseuschaftlichen Problems die Welt in einer elf Seiten
laugen Abhandlung zu belehren?


Wen solche Lehren nicht erfreun,
Verdienet nicht ein Mensch zu sein!

möchte ma" da mit Sarastro, wenn auch nur ironisch, anstimme". Man
könnte fürwahr sich versucht fühlen, über dergleichen Dinge zu scherzen, wenn
es nicht so traurig wäre, daß heute in Deutschland von solchen Fragen das
Wohl oder Wehe der Rechtsuchenden abhängt.


Die Justizorganisaticm von ^3?9 ministerieller Beleuchtung

fanden, die sie nebst dem weitschichtigen dazu gehörenden Material wissenschaftlich
bearbeiteten und dadurch die Anwendung des in seinem ganzen Bau so künst¬
lichen Gesetzes erleichterten. Diesen Dank wollten sich nun gar viele verdienen,
und so entstand eine höchst umfangreiche Prozeßlitteratur, unter der sich auch in
ihrer Art vorzügliche Werke finden. Daß aber die Prozeßordnung einen solchen
ungeheuern wissenschaftlichen Apparat notwendig machte, daß heute in unser»:
Rechtsleben die Prvzeßfragen völlig überwuchern, sodaß alle Präjndizienbücher
zum dritte» Teile damit angefüllt sind, darin kann man doch nur von dem sehr
einseitigen Standpunkte des Juristen ein Glück finden. Wer dagegen in seinem
Juristen sich noch ein Stück Menschentum bewahrt hat, der muß diese Er¬
scheinung tief beklagen. Denn alle diese Prozeßfragen müssen ausgetrngeu
werden auf Gefahr der Parteien, die sie mit schweren Kosten zu büßen haben
und nicht selten darüber ihr gutes Recht verlieren. Läge wirklich in dieser
Entwicklung der Prozeßwissenschaft der Beweis, daß die Prozeßordnung ein
wertvolles nationales Gut sei, dann müßte man auch eine schwere, in nnserm
Volke heimisch gewordne Krankheit, weil sie der ärztlichen Wissenschaft eine
überaus fruchtbare Anregung gegeben, ein wertvolles nationales Gut nennen.

So viel über den außer» Wert dieser modernen Prozeßwissenschaft. Aber
much den innern vermag ich nicht hoch anzuschlagen. Zum größten Teile ist
sie nichts andres als eine klägliche Buchstabenjurisprudeuz, bei der von innerer
Gerechtigkeit kaum noch die Rede ist. Natürlich müssen die Prozeßfragen, wenn
sie einmal auftauchen, in der Praxis durchgekämpft werde». Daß es aber so
viele Juristen giebt, die anscheinend an diesen kläglichen Fragen eine besondre
Freude finden und sich mit einem Eifer darauf werfen, als gelte es hohen
wissenschaftlichen Zielen, das ist meines Erachtens nichts weniger als ein er¬
freuliches Zeichen der Zeit. Es war z. B. schon schlimm genug, daß über die
Frage, ob eine von der Partei selbst (nicht von ihrem Anwalt) dem Gerichts¬
vollzieher aufgetragne Zustellung giltig sei, das Reichsgericht beim Widerspruch
verschiedner Senate in einer Plenarsitzung (von etwa fünfzig ReichsgerichtS-
räten) beraten und entscheide» mußte. Glücklicherweise fiel die Entscheidung so
aus, wie sie auch der einfache Menschenverstand gegeben hätte. War es denn
aber nötig, so wie in den gedruckten Entscheidungen zu lesen ist, über die
Lösung dieses hochwisseuschaftlichen Problems die Welt in einer elf Seiten
laugen Abhandlung zu belehren?


Wen solche Lehren nicht erfreun,
Verdienet nicht ein Mensch zu sein!

möchte ma» da mit Sarastro, wenn auch nur ironisch, anstimme». Man
könnte fürwahr sich versucht fühlen, über dergleichen Dinge zu scherzen, wenn
es nicht so traurig wäre, daß heute in Deutschland von solchen Fragen das
Wohl oder Wehe der Rechtsuchenden abhängt.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0133" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/206132"/>
            <fw type="header" place="top"> Die Justizorganisaticm von ^3?9   ministerieller Beleuchtung</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_485" prev="#ID_484"> fanden, die sie nebst dem weitschichtigen dazu gehörenden Material wissenschaftlich<lb/>
bearbeiteten und dadurch die Anwendung des in seinem ganzen Bau so künst¬<lb/>
lichen Gesetzes erleichterten. Diesen Dank wollten sich nun gar viele verdienen,<lb/>
und so entstand eine höchst umfangreiche Prozeßlitteratur, unter der sich auch in<lb/>
ihrer Art vorzügliche Werke finden. Daß aber die Prozeßordnung einen solchen<lb/>
ungeheuern wissenschaftlichen Apparat notwendig machte, daß heute in unser»:<lb/>
Rechtsleben die Prvzeßfragen völlig überwuchern, sodaß alle Präjndizienbücher<lb/>
zum dritte» Teile damit angefüllt sind, darin kann man doch nur von dem sehr<lb/>
einseitigen Standpunkte des Juristen ein Glück finden. Wer dagegen in seinem<lb/>
Juristen sich noch ein Stück Menschentum bewahrt hat, der muß diese Er¬<lb/>
scheinung tief beklagen. Denn alle diese Prozeßfragen müssen ausgetrngeu<lb/>
werden auf Gefahr der Parteien, die sie mit schweren Kosten zu büßen haben<lb/>
und nicht selten darüber ihr gutes Recht verlieren. Läge wirklich in dieser<lb/>
Entwicklung der Prozeßwissenschaft der Beweis, daß die Prozeßordnung ein<lb/>
wertvolles nationales Gut sei, dann müßte man auch eine schwere, in nnserm<lb/>
Volke heimisch gewordne Krankheit, weil sie der ärztlichen Wissenschaft eine<lb/>
überaus fruchtbare Anregung gegeben, ein wertvolles nationales Gut nennen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_486" next="#ID_487"> So viel über den außer» Wert dieser modernen Prozeßwissenschaft. Aber<lb/>
much den innern vermag ich nicht hoch anzuschlagen. Zum größten Teile ist<lb/>
sie nichts andres als eine klägliche Buchstabenjurisprudeuz, bei der von innerer<lb/>
Gerechtigkeit kaum noch die Rede ist. Natürlich müssen die Prozeßfragen, wenn<lb/>
sie einmal auftauchen, in der Praxis durchgekämpft werde». Daß es aber so<lb/>
viele Juristen giebt, die anscheinend an diesen kläglichen Fragen eine besondre<lb/>
Freude finden und sich mit einem Eifer darauf werfen, als gelte es hohen<lb/>
wissenschaftlichen Zielen, das ist meines Erachtens nichts weniger als ein er¬<lb/>
freuliches Zeichen der Zeit. Es war z. B. schon schlimm genug, daß über die<lb/>
Frage, ob eine von der Partei selbst (nicht von ihrem Anwalt) dem Gerichts¬<lb/>
vollzieher aufgetragne Zustellung giltig sei, das Reichsgericht beim Widerspruch<lb/>
verschiedner Senate in einer Plenarsitzung (von etwa fünfzig ReichsgerichtS-<lb/>
räten) beraten und entscheide» mußte. Glücklicherweise fiel die Entscheidung so<lb/>
aus, wie sie auch der einfache Menschenverstand gegeben hätte. War es denn<lb/>
aber nötig, so wie in den gedruckten Entscheidungen zu lesen ist, über die<lb/>
Lösung dieses hochwisseuschaftlichen Problems die Welt in einer elf Seiten<lb/>
laugen Abhandlung zu belehren?</p><lb/>
            <quote> Wen solche Lehren nicht erfreun,<lb/>
Verdienet nicht ein Mensch zu sein!</quote><lb/>
            <p xml:id="ID_487" prev="#ID_486"> möchte ma» da mit Sarastro, wenn auch nur ironisch, anstimme». Man<lb/>
könnte fürwahr sich versucht fühlen, über dergleichen Dinge zu scherzen, wenn<lb/>
es nicht so traurig wäre, daß heute in Deutschland von solchen Fragen das<lb/>
Wohl oder Wehe der Rechtsuchenden abhängt.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0133] Die Justizorganisaticm von ^3?9 ministerieller Beleuchtung fanden, die sie nebst dem weitschichtigen dazu gehörenden Material wissenschaftlich bearbeiteten und dadurch die Anwendung des in seinem ganzen Bau so künst¬ lichen Gesetzes erleichterten. Diesen Dank wollten sich nun gar viele verdienen, und so entstand eine höchst umfangreiche Prozeßlitteratur, unter der sich auch in ihrer Art vorzügliche Werke finden. Daß aber die Prozeßordnung einen solchen ungeheuern wissenschaftlichen Apparat notwendig machte, daß heute in unser»: Rechtsleben die Prvzeßfragen völlig überwuchern, sodaß alle Präjndizienbücher zum dritte» Teile damit angefüllt sind, darin kann man doch nur von dem sehr einseitigen Standpunkte des Juristen ein Glück finden. Wer dagegen in seinem Juristen sich noch ein Stück Menschentum bewahrt hat, der muß diese Er¬ scheinung tief beklagen. Denn alle diese Prozeßfragen müssen ausgetrngeu werden auf Gefahr der Parteien, die sie mit schweren Kosten zu büßen haben und nicht selten darüber ihr gutes Recht verlieren. Läge wirklich in dieser Entwicklung der Prozeßwissenschaft der Beweis, daß die Prozeßordnung ein wertvolles nationales Gut sei, dann müßte man auch eine schwere, in nnserm Volke heimisch gewordne Krankheit, weil sie der ärztlichen Wissenschaft eine überaus fruchtbare Anregung gegeben, ein wertvolles nationales Gut nennen. So viel über den außer» Wert dieser modernen Prozeßwissenschaft. Aber much den innern vermag ich nicht hoch anzuschlagen. Zum größten Teile ist sie nichts andres als eine klägliche Buchstabenjurisprudeuz, bei der von innerer Gerechtigkeit kaum noch die Rede ist. Natürlich müssen die Prozeßfragen, wenn sie einmal auftauchen, in der Praxis durchgekämpft werde». Daß es aber so viele Juristen giebt, die anscheinend an diesen kläglichen Fragen eine besondre Freude finden und sich mit einem Eifer darauf werfen, als gelte es hohen wissenschaftlichen Zielen, das ist meines Erachtens nichts weniger als ein er¬ freuliches Zeichen der Zeit. Es war z. B. schon schlimm genug, daß über die Frage, ob eine von der Partei selbst (nicht von ihrem Anwalt) dem Gerichts¬ vollzieher aufgetragne Zustellung giltig sei, das Reichsgericht beim Widerspruch verschiedner Senate in einer Plenarsitzung (von etwa fünfzig ReichsgerichtS- räten) beraten und entscheide» mußte. Glücklicherweise fiel die Entscheidung so aus, wie sie auch der einfache Menschenverstand gegeben hätte. War es denn aber nötig, so wie in den gedruckten Entscheidungen zu lesen ist, über die Lösung dieses hochwisseuschaftlichen Problems die Welt in einer elf Seiten laugen Abhandlung zu belehren? Wen solche Lehren nicht erfreun, Verdienet nicht ein Mensch zu sein! möchte ma» da mit Sarastro, wenn auch nur ironisch, anstimme». Man könnte fürwahr sich versucht fühlen, über dergleichen Dinge zu scherzen, wenn es nicht so traurig wäre, daß heute in Deutschland von solchen Fragen das Wohl oder Wehe der Rechtsuchenden abhängt.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/133
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_205998/133>, abgerufen am 21.12.2024.