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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Herr Hinrichsen und sein litterarisches Deutschland.

erhöht, wie Hahn in seiner Schrift "Die Frau auf dem Gebiete der Arbeit"
(Neutlingen 1884) treffend bemerkt, "die Arbeitskraft des Mannes, indem sie
ihm wirklich eine Erholung geben kann: sie nimmt ihm einen großen Teil der
Sorgen ab, erhält, was er erarbeitet hat; ihr Umgang fördert in ihm Ge¬
danken zutage, welche sonst nie gekommen wären, sie ist ein Talisman gegen
das Schlimme, mit ihr entsteht für den deutschen Mann ein wahres deutsches
Heim; dieses aber allein ist imstande, über die größte Untugend des Deutschen,
den Hang zum Wirtshaus, aus welchem dann auch der Zuvielgenuß geistiger
Getränke und die Verschwendung folgt, endlich Meister zu werden." Lösen
wir die "Frauenfrage des vierten Standes", dann wird es auch gelingen, der
"sozialen Frage" Herr zu werden. Verharren aber die bessern Gesellschafts¬
kreise ferner in ihrer Gleichgiltigkeit, treten die Frauen und Mädchen der bessern
Stände noch länger als Konkurrentinnen der armen Arbeiterinnen auf, und
bleiben endlich die Arbeitgeber auf dem engherzigen Standpunkte, den sie bisher
in der Arbeitcrinnenfragc eingenommen haben, so darf es nicht wunder nehmen,
wenn die Staat und Gesellschaft bedrohenden Bestrebungen auch in Frauen-
kreisen tiefere Wurzeln fassen, in bedrohlicherer Gestalt auftreten und von Übeln
Folgen begleitet sind. Daß das geschehe, muß mit allen Kräften verhütet
werden.




Herr Hinrichsen und sein litterarisches Deutschland.

in vierten Buch der zahmen Xenien hat Goethe der Kritik und
Litteraturgeschichte einen Wink gegeben, der in vier Verszeilen
für mehr als ein Jahrhundert Weisheit enthält:


Wohin wir bei unsern Gebresten
Uns im Augenblick richten sollen?
Denke nur immer an die Besten,
Sie mögen stecken, wo sie wollen.

Ein leider nur kleiner Teil unsrer zeitgenössischen Kritik läßt sich noch
von diesem Satze leiten, der größre Teil ist ihm untreu geworden. Eine
besondre Gruppe kennt nur die "Besten," die zur Schule oder, wie es gut
Kölnisch heißt, zum "Klüngel" gehören; die Masse der Schriftsteller und Urteiler
sucht eifrig den Glauben zu verbreiten, daß es keine "Besten" gebe, und daß
die geringern Unterschiede, die sich zwischen den zeitgenössischen Talenten ent¬
decken lassen, gar nicht erst der Mühe der Unterscheidung lohnten. Die herr¬
schende Tendenz unsrer Kritik geht dahin, alles litterarische Leben und Streben


Herr Hinrichsen und sein litterarisches Deutschland.

erhöht, wie Hahn in seiner Schrift „Die Frau auf dem Gebiete der Arbeit"
(Neutlingen 1884) treffend bemerkt, „die Arbeitskraft des Mannes, indem sie
ihm wirklich eine Erholung geben kann: sie nimmt ihm einen großen Teil der
Sorgen ab, erhält, was er erarbeitet hat; ihr Umgang fördert in ihm Ge¬
danken zutage, welche sonst nie gekommen wären, sie ist ein Talisman gegen
das Schlimme, mit ihr entsteht für den deutschen Mann ein wahres deutsches
Heim; dieses aber allein ist imstande, über die größte Untugend des Deutschen,
den Hang zum Wirtshaus, aus welchem dann auch der Zuvielgenuß geistiger
Getränke und die Verschwendung folgt, endlich Meister zu werden." Lösen
wir die „Frauenfrage des vierten Standes", dann wird es auch gelingen, der
„sozialen Frage" Herr zu werden. Verharren aber die bessern Gesellschafts¬
kreise ferner in ihrer Gleichgiltigkeit, treten die Frauen und Mädchen der bessern
Stände noch länger als Konkurrentinnen der armen Arbeiterinnen auf, und
bleiben endlich die Arbeitgeber auf dem engherzigen Standpunkte, den sie bisher
in der Arbeitcrinnenfragc eingenommen haben, so darf es nicht wunder nehmen,
wenn die Staat und Gesellschaft bedrohenden Bestrebungen auch in Frauen-
kreisen tiefere Wurzeln fassen, in bedrohlicherer Gestalt auftreten und von Übeln
Folgen begleitet sind. Daß das geschehe, muß mit allen Kräften verhütet
werden.




Herr Hinrichsen und sein litterarisches Deutschland.

in vierten Buch der zahmen Xenien hat Goethe der Kritik und
Litteraturgeschichte einen Wink gegeben, der in vier Verszeilen
für mehr als ein Jahrhundert Weisheit enthält:


Wohin wir bei unsern Gebresten
Uns im Augenblick richten sollen?
Denke nur immer an die Besten,
Sie mögen stecken, wo sie wollen.

Ein leider nur kleiner Teil unsrer zeitgenössischen Kritik läßt sich noch
von diesem Satze leiten, der größre Teil ist ihm untreu geworden. Eine
besondre Gruppe kennt nur die „Besten," die zur Schule oder, wie es gut
Kölnisch heißt, zum „Klüngel" gehören; die Masse der Schriftsteller und Urteiler
sucht eifrig den Glauben zu verbreiten, daß es keine „Besten" gebe, und daß
die geringern Unterschiede, die sich zwischen den zeitgenössischen Talenten ent¬
decken lassen, gar nicht erst der Mühe der Unterscheidung lohnten. Die herr¬
schende Tendenz unsrer Kritik geht dahin, alles litterarische Leben und Streben


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/96>, abgerufen am 22.07.2024.