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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Herr Hinrichsen und sein litterarisches Deutschland.

der Gegenwart als einen Urbrei zu betrachten, aus dem von Zeit zu Zeit
einzelne Erfolgsblasen aufsteigen, um demnächst wieder zu platzen. Wenn diese
anmutige Auffassung in den Tageszeitungen vorherrscht (denen zu neun Zehnteln
die Litteratur und alle Bildungsinteressen das Gleichgiltigste von der Welt sind)
und wenn man zugeben muß, daß die kritiklose Reklame der Zeitungen schon
ein Gewohnheitsübel geworden ist, das man mehr oder minder willig erträgt,
so ziemt es sich doch, ernste Verwahrung einzulegen gegen die Ausbreitung dieses
Übels auch in Büchern, die mit ernstem Ansprüchen auftreten. Schon Franz
Brummers "Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten des neunzehnten Jahr¬
hunderts," das demnächst in dritter Auflage erscheint, eine fleißige und
sorgfältige Arbeit, krankt an der Kritiklosigkeit, mit der das bedeutendste und
das nichtigste als völlig gleichwertig behandelt wird, an der Ungleichheit, mit
der wirklich hervorragende und schöpferische Naturen in ein paar Zeilen abge¬
fertigt werden, während den hohlsten Dilettanten der dreifache und zehnfache
Raum für ihre Schicksale und die Listen ihrer Versuche gegönnt ist. Gleichwohl soll
gern eingeräumt werden, daß das Brümmcrsche Lexikon doch einen festen Kern, ein
deutliches Gepräge hat. Die Aufnahme aller im laufenden Jahrhundert ge-
bornen, gleichviel ob sie leben oder todt sind, die strenge Begrenzung auf die
poetischen (belletristischen) Schriftsteller in Vers und Prosa, die Ausscheidung
alles Selbstlobes und aller Polemik aus den einzelnen Artikeln (die sich zum
großen Teil auf persönliche Mitteilungen der Aufgenommenen stützen), die Zu¬
verlässigkeit der Angaben verleihen dem Brümmerschen Lexikon einen bestimmten
Charakter. Es ist ein Nachschlagebuch, will nicht mehr sein. Ganz anders
steht es um ein pomphaft angekündigtes Werk, das laut seiner Vorrede viel Höheres
erstrebt: Das litterarische Deutschland von Adolf Hinrichsen mit einer
Einleitung von Professor Doktor C. Beyer (Berlin und Rostock, Verlag
der Album-Stiftung). Der Herausgeber erklärt in der Vorrede. "Manches
Jahr schon trug ich mich mit dem Plane des Litterarischen Deutschlands. Ich
empfand es stets als eine große Lücke in unsrer nationalen Litteratur, daß
sie nicht ein Werk aufzuweisen hatte, das die Geistesschätze des Volkes der
Denker und Dichter (nicht solche der letztern allein) zusammenfaßt, seien es
auch nur die einer bestimmten Zeitepoche: eine Art Momentphotographie, die
unsre deutschuationaleu Errungenschaften und Bestrebungen wiederzuspiegcln
imstande ist. Und doch hege ich den Stolz, nicht nur eine solche durch das
erdrückende Morgen bereits verwischte in dem Litterarischen Deutschland zu lie¬
fern, sondern gedenke mein hiermit begonnenes Werk fortzusetzen: viele Moment¬
photographien zu schaffen und das ewig neue Werden in solchen festzubannen,
soweit meine Kraft reicht." Hiernach muß jedermann glauben, daß es sich
in dem 724 doppelspaltige Seiten starken Werke um eine ausgedehnte Antho¬
logie oder etwas dem ähnliches handeln müsse. Denn unter Geistesschützen,
die man "zusammenfaßt", hat man bisher, soweit die deutsche Zunge klingt, die


Grenzboten IV. 1833. 12
Herr Hinrichsen und sein litterarisches Deutschland.

der Gegenwart als einen Urbrei zu betrachten, aus dem von Zeit zu Zeit
einzelne Erfolgsblasen aufsteigen, um demnächst wieder zu platzen. Wenn diese
anmutige Auffassung in den Tageszeitungen vorherrscht (denen zu neun Zehnteln
die Litteratur und alle Bildungsinteressen das Gleichgiltigste von der Welt sind)
und wenn man zugeben muß, daß die kritiklose Reklame der Zeitungen schon
ein Gewohnheitsübel geworden ist, das man mehr oder minder willig erträgt,
so ziemt es sich doch, ernste Verwahrung einzulegen gegen die Ausbreitung dieses
Übels auch in Büchern, die mit ernstem Ansprüchen auftreten. Schon Franz
Brummers „Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten des neunzehnten Jahr¬
hunderts," das demnächst in dritter Auflage erscheint, eine fleißige und
sorgfältige Arbeit, krankt an der Kritiklosigkeit, mit der das bedeutendste und
das nichtigste als völlig gleichwertig behandelt wird, an der Ungleichheit, mit
der wirklich hervorragende und schöpferische Naturen in ein paar Zeilen abge¬
fertigt werden, während den hohlsten Dilettanten der dreifache und zehnfache
Raum für ihre Schicksale und die Listen ihrer Versuche gegönnt ist. Gleichwohl soll
gern eingeräumt werden, daß das Brümmcrsche Lexikon doch einen festen Kern, ein
deutliches Gepräge hat. Die Aufnahme aller im laufenden Jahrhundert ge-
bornen, gleichviel ob sie leben oder todt sind, die strenge Begrenzung auf die
poetischen (belletristischen) Schriftsteller in Vers und Prosa, die Ausscheidung
alles Selbstlobes und aller Polemik aus den einzelnen Artikeln (die sich zum
großen Teil auf persönliche Mitteilungen der Aufgenommenen stützen), die Zu¬
verlässigkeit der Angaben verleihen dem Brümmerschen Lexikon einen bestimmten
Charakter. Es ist ein Nachschlagebuch, will nicht mehr sein. Ganz anders
steht es um ein pomphaft angekündigtes Werk, das laut seiner Vorrede viel Höheres
erstrebt: Das litterarische Deutschland von Adolf Hinrichsen mit einer
Einleitung von Professor Doktor C. Beyer (Berlin und Rostock, Verlag
der Album-Stiftung). Der Herausgeber erklärt in der Vorrede. „Manches
Jahr schon trug ich mich mit dem Plane des Litterarischen Deutschlands. Ich
empfand es stets als eine große Lücke in unsrer nationalen Litteratur, daß
sie nicht ein Werk aufzuweisen hatte, das die Geistesschätze des Volkes der
Denker und Dichter (nicht solche der letztern allein) zusammenfaßt, seien es
auch nur die einer bestimmten Zeitepoche: eine Art Momentphotographie, die
unsre deutschuationaleu Errungenschaften und Bestrebungen wiederzuspiegcln
imstande ist. Und doch hege ich den Stolz, nicht nur eine solche durch das
erdrückende Morgen bereits verwischte in dem Litterarischen Deutschland zu lie¬
fern, sondern gedenke mein hiermit begonnenes Werk fortzusetzen: viele Moment¬
photographien zu schaffen und das ewig neue Werden in solchen festzubannen,
soweit meine Kraft reicht." Hiernach muß jedermann glauben, daß es sich
in dem 724 doppelspaltige Seiten starken Werke um eine ausgedehnte Antho¬
logie oder etwas dem ähnliches handeln müsse. Denn unter Geistesschützen,
die man „zusammenfaßt", hat man bisher, soweit die deutsche Zunge klingt, die


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[0097] Herr Hinrichsen und sein litterarisches Deutschland. der Gegenwart als einen Urbrei zu betrachten, aus dem von Zeit zu Zeit einzelne Erfolgsblasen aufsteigen, um demnächst wieder zu platzen. Wenn diese anmutige Auffassung in den Tageszeitungen vorherrscht (denen zu neun Zehnteln die Litteratur und alle Bildungsinteressen das Gleichgiltigste von der Welt sind) und wenn man zugeben muß, daß die kritiklose Reklame der Zeitungen schon ein Gewohnheitsübel geworden ist, das man mehr oder minder willig erträgt, so ziemt es sich doch, ernste Verwahrung einzulegen gegen die Ausbreitung dieses Übels auch in Büchern, die mit ernstem Ansprüchen auftreten. Schon Franz Brummers „Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten des neunzehnten Jahr¬ hunderts," das demnächst in dritter Auflage erscheint, eine fleißige und sorgfältige Arbeit, krankt an der Kritiklosigkeit, mit der das bedeutendste und das nichtigste als völlig gleichwertig behandelt wird, an der Ungleichheit, mit der wirklich hervorragende und schöpferische Naturen in ein paar Zeilen abge¬ fertigt werden, während den hohlsten Dilettanten der dreifache und zehnfache Raum für ihre Schicksale und die Listen ihrer Versuche gegönnt ist. Gleichwohl soll gern eingeräumt werden, daß das Brümmcrsche Lexikon doch einen festen Kern, ein deutliches Gepräge hat. Die Aufnahme aller im laufenden Jahrhundert ge- bornen, gleichviel ob sie leben oder todt sind, die strenge Begrenzung auf die poetischen (belletristischen) Schriftsteller in Vers und Prosa, die Ausscheidung alles Selbstlobes und aller Polemik aus den einzelnen Artikeln (die sich zum großen Teil auf persönliche Mitteilungen der Aufgenommenen stützen), die Zu¬ verlässigkeit der Angaben verleihen dem Brümmerschen Lexikon einen bestimmten Charakter. Es ist ein Nachschlagebuch, will nicht mehr sein. Ganz anders steht es um ein pomphaft angekündigtes Werk, das laut seiner Vorrede viel Höheres erstrebt: Das litterarische Deutschland von Adolf Hinrichsen mit einer Einleitung von Professor Doktor C. Beyer (Berlin und Rostock, Verlag der Album-Stiftung). Der Herausgeber erklärt in der Vorrede. „Manches Jahr schon trug ich mich mit dem Plane des Litterarischen Deutschlands. Ich empfand es stets als eine große Lücke in unsrer nationalen Litteratur, daß sie nicht ein Werk aufzuweisen hatte, das die Geistesschätze des Volkes der Denker und Dichter (nicht solche der letztern allein) zusammenfaßt, seien es auch nur die einer bestimmten Zeitepoche: eine Art Momentphotographie, die unsre deutschuationaleu Errungenschaften und Bestrebungen wiederzuspiegcln imstande ist. Und doch hege ich den Stolz, nicht nur eine solche durch das erdrückende Morgen bereits verwischte in dem Litterarischen Deutschland zu lie¬ fern, sondern gedenke mein hiermit begonnenes Werk fortzusetzen: viele Moment¬ photographien zu schaffen und das ewig neue Werden in solchen festzubannen, soweit meine Kraft reicht." Hiernach muß jedermann glauben, daß es sich in dem 724 doppelspaltige Seiten starken Werke um eine ausgedehnte Antho¬ logie oder etwas dem ähnliches handeln müsse. Denn unter Geistesschützen, die man „zusammenfaßt", hat man bisher, soweit die deutsche Zunge klingt, die Grenzboten IV. 1833. 12

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/97>, abgerufen am 22.07.2024.