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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Dreißig Jahre in Paris.

eins eine Reise! Nach dreißig Jahren noch fühle ich, wenn ich
daran denke, meine Beine in einem Eisblöcke und werde von Magen-
krämpfen ergriffen. Zwei Tage in dritter Wagenklasse in einem
dünnen Sommeranzuge und bei scharfer Kälte! Ich war sechzehn
Jahre alt, kam weither, vom hintersten Ende des Languedoc, wo
ich letzter Unterlehrer war, um mich der Litteratur zu widmen. Mein bezahlter
Platz hatte mir gerade vierzig Sous in der Tasche gelassen, doch warum
sollte ich mich darüber beunruhigen? War ich doch so reich an Hoffnungen!
Ich vergaß, daß ich Hunger hatte, trotz der Verlockungen von Backwerk und
belegten Butterbroten, die auf den Büffels der Bahnhöfe zur Schau gestellt
waren; ich wollte meine blanke sorgsam in einer meiner Taschen versteckte Münze
nicht fahren lassen. Gegen das Ende der Reise freilich, als unser Zug keuchend
und uns von einer Seite auf die andre schleudernd uns über die traurigen
Ebenen der Champagne dahinriß, war ich nahe daran, ernstlich krank zu werden.
Meine Reisegefährten, Matrosen, die sich die Zeit mit Singen Vertrieben,
reichten mir ein rundbauchige Flasche. Wackere Leute! Wie schön waren ihre
rauhen Lieder, wie gut ihr heißer Branntwein für einen, der zweimal vier¬
undzwanzig Stunden lang nichts gegessen hatte.

Dies rettete und belebte mich neu, die Übermüdung wiegte mich in
Schlummer, ich schlief mit zeitweiligen Erwachen beim Halten des Zuges und
Rückfällen in die Schlafsucht, sobald der Zug wieder in Gang war.

Ein Lärm von Rädern, der über eiserne Platten dröhnt, eine riesige Wöl¬
bung von Glas, erfüllt von Licht, Thüren, welche schlagen, Gepäckwagen, welche
rollen, eine ungeduldige, geschäftige Menge, Beamte der Douane -- Paris.

Mein Bruder erwartete mich auf dem Perron. Ein praktischer Bursche,
wie er trotz seiner Jugend war, erfüllt vom Gefühl seiner Pflichten als der
ältere, hatte er sich mit einem Handkarren und einem Dienstmanne versorgt.
Wir wollen gleich dein Gepäck aufladen!

Es war nett, dies Gepäck. Ein kleines armseliges Kofferchen, verziert mit
Nägeln und Ausbesserungen und mehr als sein Inhalt wiegend. Wir setzten
uns längs der verlassenen Quais hin nach dem Huartisr latin in Bewegung
und marschierten durch schlafende Straßen hinter unserm Karren, den der Dienst-


Grenzbotcn IV. I8L3. 29


Dreißig Jahre in Paris.

eins eine Reise! Nach dreißig Jahren noch fühle ich, wenn ich
daran denke, meine Beine in einem Eisblöcke und werde von Magen-
krämpfen ergriffen. Zwei Tage in dritter Wagenklasse in einem
dünnen Sommeranzuge und bei scharfer Kälte! Ich war sechzehn
Jahre alt, kam weither, vom hintersten Ende des Languedoc, wo
ich letzter Unterlehrer war, um mich der Litteratur zu widmen. Mein bezahlter
Platz hatte mir gerade vierzig Sous in der Tasche gelassen, doch warum
sollte ich mich darüber beunruhigen? War ich doch so reich an Hoffnungen!
Ich vergaß, daß ich Hunger hatte, trotz der Verlockungen von Backwerk und
belegten Butterbroten, die auf den Büffels der Bahnhöfe zur Schau gestellt
waren; ich wollte meine blanke sorgsam in einer meiner Taschen versteckte Münze
nicht fahren lassen. Gegen das Ende der Reise freilich, als unser Zug keuchend
und uns von einer Seite auf die andre schleudernd uns über die traurigen
Ebenen der Champagne dahinriß, war ich nahe daran, ernstlich krank zu werden.
Meine Reisegefährten, Matrosen, die sich die Zeit mit Singen Vertrieben,
reichten mir ein rundbauchige Flasche. Wackere Leute! Wie schön waren ihre
rauhen Lieder, wie gut ihr heißer Branntwein für einen, der zweimal vier¬
undzwanzig Stunden lang nichts gegessen hatte.

Dies rettete und belebte mich neu, die Übermüdung wiegte mich in
Schlummer, ich schlief mit zeitweiligen Erwachen beim Halten des Zuges und
Rückfällen in die Schlafsucht, sobald der Zug wieder in Gang war.

Ein Lärm von Rädern, der über eiserne Platten dröhnt, eine riesige Wöl¬
bung von Glas, erfüllt von Licht, Thüren, welche schlagen, Gepäckwagen, welche
rollen, eine ungeduldige, geschäftige Menge, Beamte der Douane — Paris.

Mein Bruder erwartete mich auf dem Perron. Ein praktischer Bursche,
wie er trotz seiner Jugend war, erfüllt vom Gefühl seiner Pflichten als der
ältere, hatte er sich mit einem Handkarren und einem Dienstmanne versorgt.
Wir wollen gleich dein Gepäck aufladen!

Es war nett, dies Gepäck. Ein kleines armseliges Kofferchen, verziert mit
Nägeln und Ausbesserungen und mehr als sein Inhalt wiegend. Wir setzten
uns längs der verlassenen Quais hin nach dem Huartisr latin in Bewegung
und marschierten durch schlafende Straßen hinter unserm Karren, den der Dienst-


Grenzbotcn IV. I8L3. 29
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[0233] [Abbildung] Dreißig Jahre in Paris. eins eine Reise! Nach dreißig Jahren noch fühle ich, wenn ich daran denke, meine Beine in einem Eisblöcke und werde von Magen- krämpfen ergriffen. Zwei Tage in dritter Wagenklasse in einem dünnen Sommeranzuge und bei scharfer Kälte! Ich war sechzehn Jahre alt, kam weither, vom hintersten Ende des Languedoc, wo ich letzter Unterlehrer war, um mich der Litteratur zu widmen. Mein bezahlter Platz hatte mir gerade vierzig Sous in der Tasche gelassen, doch warum sollte ich mich darüber beunruhigen? War ich doch so reich an Hoffnungen! Ich vergaß, daß ich Hunger hatte, trotz der Verlockungen von Backwerk und belegten Butterbroten, die auf den Büffels der Bahnhöfe zur Schau gestellt waren; ich wollte meine blanke sorgsam in einer meiner Taschen versteckte Münze nicht fahren lassen. Gegen das Ende der Reise freilich, als unser Zug keuchend und uns von einer Seite auf die andre schleudernd uns über die traurigen Ebenen der Champagne dahinriß, war ich nahe daran, ernstlich krank zu werden. Meine Reisegefährten, Matrosen, die sich die Zeit mit Singen Vertrieben, reichten mir ein rundbauchige Flasche. Wackere Leute! Wie schön waren ihre rauhen Lieder, wie gut ihr heißer Branntwein für einen, der zweimal vier¬ undzwanzig Stunden lang nichts gegessen hatte. Dies rettete und belebte mich neu, die Übermüdung wiegte mich in Schlummer, ich schlief mit zeitweiligen Erwachen beim Halten des Zuges und Rückfällen in die Schlafsucht, sobald der Zug wieder in Gang war. Ein Lärm von Rädern, der über eiserne Platten dröhnt, eine riesige Wöl¬ bung von Glas, erfüllt von Licht, Thüren, welche schlagen, Gepäckwagen, welche rollen, eine ungeduldige, geschäftige Menge, Beamte der Douane — Paris. Mein Bruder erwartete mich auf dem Perron. Ein praktischer Bursche, wie er trotz seiner Jugend war, erfüllt vom Gefühl seiner Pflichten als der ältere, hatte er sich mit einem Handkarren und einem Dienstmanne versorgt. Wir wollen gleich dein Gepäck aufladen! Es war nett, dies Gepäck. Ein kleines armseliges Kofferchen, verziert mit Nägeln und Ausbesserungen und mehr als sein Inhalt wiegend. Wir setzten uns längs der verlassenen Quais hin nach dem Huartisr latin in Bewegung und marschierten durch schlafende Straßen hinter unserm Karren, den der Dienst- Grenzbotcn IV. I8L3. 29

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/233>, abgerufen am 28.06.2024.