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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Die Grenzen des naturwissenschaftlichen Grkennens.

eines und desselben deutschen Volkes zu erblicken, das heute in erhebenden
Bewußtsein seiner Einheit, seiner Unabhängigkeit und seiner Bedeutung als
Kulturmacht mit berechtigtem Stolze sich eine große Nation nennen darf.




Die Grenzen des naturwissenschaftlichen Grkennens.

n dem Vortrage, den Dubois-Reymond in der 45ten Versamm¬
lung deutscher Naturforscher und Ärzte über die Grenzen des
Naturerkennens gehalten hat, nannte er die Naturwissenschaft die
Weltbesiegerin unsrer Tage. Er selbst gab aber durch seinen
Vortrag den Beleg dafür, daß der Ausdruck unrichtig ist, wenn
man unter Welt die Körperwelt versteht. In dem Siegeslaufe, den die Natur¬
wissenschaft fast seit zwei Geschlechtern, seit Hegels Tode, unbestritten genommen
hat, deutete für jeden besonnenen Denker das auf große Vermessenheit, daß sie
mit dem Erkennen der Körperwelt zugleich die Geisteswelt erkannt zu haben
den Anspruch machte. Sie wurde freilich von vornherein dafür genug gestraft;
denn ihre ganze Erkenntnis nach dieser Seite hin lief darauf hinaus, daß die
Geisteswelt so gut wie ein Nichts sei. "Für die Naturforschung," sagt C. Vogt
in den "Bildern aus dem Naturleben," "ist die Seele kein immaterielles, von
dem Körper trennbares Prinzip, sondern nur ein Kollektivname für verschiedene
Funktionen, die dem Nervensystem, dem Gehirn, ausschließlich zukommen, und
die ebenso wie alle andern Funktionen der verschiedenen Organsysteme des Körpers
bei Störung des Organs modifizirt werden. Geht das Organ, geht der Körper,
dem es angehört, zu Grunde, so hört auch damit die Funktion auf; stirbt der
Körper, so hat auch damit die Seele ein vollständiges Ende. Die Natur¬
forschung kennt keine individuelle Fortdauer der Seele nach dem Tode." Richtig
ist hier, daß die Naturforschung keine Fortdauer der Seele kennt, falsch ist,
daß C. Vogt die Vorstellung erweckt und erwecken will, als sei an das Ende
des Körpers auch das der Seele gebunden, und als sei die Seele selbst aus
der Erkenntnis des körperlichen Organismus erkannt. Hier liegt die schlimme
Verwechslung von bloßem Bedingtsein und Gesetztsein vor. Vom physiologischen
Standpunkte aus ist die persönliche Seele, der Geist, allerdings bedingt durch
den Organismus des Körpers; das kann uns schon die tägliche Erfahrung
des verschiedenen Befindens mit der davon abhängigen Stimmung lehren.
Damit ist aber doch nur das eine gesagt, daß die Idee an der Materie zur
Offenbarung kommt, nicht, daß sie durch die Materie gesetzt ist. Daß dieses


Die Grenzen des naturwissenschaftlichen Grkennens.

eines und desselben deutschen Volkes zu erblicken, das heute in erhebenden
Bewußtsein seiner Einheit, seiner Unabhängigkeit und seiner Bedeutung als
Kulturmacht mit berechtigtem Stolze sich eine große Nation nennen darf.




Die Grenzen des naturwissenschaftlichen Grkennens.

n dem Vortrage, den Dubois-Reymond in der 45ten Versamm¬
lung deutscher Naturforscher und Ärzte über die Grenzen des
Naturerkennens gehalten hat, nannte er die Naturwissenschaft die
Weltbesiegerin unsrer Tage. Er selbst gab aber durch seinen
Vortrag den Beleg dafür, daß der Ausdruck unrichtig ist, wenn
man unter Welt die Körperwelt versteht. In dem Siegeslaufe, den die Natur¬
wissenschaft fast seit zwei Geschlechtern, seit Hegels Tode, unbestritten genommen
hat, deutete für jeden besonnenen Denker das auf große Vermessenheit, daß sie
mit dem Erkennen der Körperwelt zugleich die Geisteswelt erkannt zu haben
den Anspruch machte. Sie wurde freilich von vornherein dafür genug gestraft;
denn ihre ganze Erkenntnis nach dieser Seite hin lief darauf hinaus, daß die
Geisteswelt so gut wie ein Nichts sei. „Für die Naturforschung," sagt C. Vogt
in den „Bildern aus dem Naturleben," „ist die Seele kein immaterielles, von
dem Körper trennbares Prinzip, sondern nur ein Kollektivname für verschiedene
Funktionen, die dem Nervensystem, dem Gehirn, ausschließlich zukommen, und
die ebenso wie alle andern Funktionen der verschiedenen Organsysteme des Körpers
bei Störung des Organs modifizirt werden. Geht das Organ, geht der Körper,
dem es angehört, zu Grunde, so hört auch damit die Funktion auf; stirbt der
Körper, so hat auch damit die Seele ein vollständiges Ende. Die Natur¬
forschung kennt keine individuelle Fortdauer der Seele nach dem Tode." Richtig
ist hier, daß die Naturforschung keine Fortdauer der Seele kennt, falsch ist,
daß C. Vogt die Vorstellung erweckt und erwecken will, als sei an das Ende
des Körpers auch das der Seele gebunden, und als sei die Seele selbst aus
der Erkenntnis des körperlichen Organismus erkannt. Hier liegt die schlimme
Verwechslung von bloßem Bedingtsein und Gesetztsein vor. Vom physiologischen
Standpunkte aus ist die persönliche Seele, der Geist, allerdings bedingt durch
den Organismus des Körpers; das kann uns schon die tägliche Erfahrung
des verschiedenen Befindens mit der davon abhängigen Stimmung lehren.
Damit ist aber doch nur das eine gesagt, daß die Idee an der Materie zur
Offenbarung kommt, nicht, daß sie durch die Materie gesetzt ist. Daß dieses


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[0159] Die Grenzen des naturwissenschaftlichen Grkennens. eines und desselben deutschen Volkes zu erblicken, das heute in erhebenden Bewußtsein seiner Einheit, seiner Unabhängigkeit und seiner Bedeutung als Kulturmacht mit berechtigtem Stolze sich eine große Nation nennen darf. Die Grenzen des naturwissenschaftlichen Grkennens. n dem Vortrage, den Dubois-Reymond in der 45ten Versamm¬ lung deutscher Naturforscher und Ärzte über die Grenzen des Naturerkennens gehalten hat, nannte er die Naturwissenschaft die Weltbesiegerin unsrer Tage. Er selbst gab aber durch seinen Vortrag den Beleg dafür, daß der Ausdruck unrichtig ist, wenn man unter Welt die Körperwelt versteht. In dem Siegeslaufe, den die Natur¬ wissenschaft fast seit zwei Geschlechtern, seit Hegels Tode, unbestritten genommen hat, deutete für jeden besonnenen Denker das auf große Vermessenheit, daß sie mit dem Erkennen der Körperwelt zugleich die Geisteswelt erkannt zu haben den Anspruch machte. Sie wurde freilich von vornherein dafür genug gestraft; denn ihre ganze Erkenntnis nach dieser Seite hin lief darauf hinaus, daß die Geisteswelt so gut wie ein Nichts sei. „Für die Naturforschung," sagt C. Vogt in den „Bildern aus dem Naturleben," „ist die Seele kein immaterielles, von dem Körper trennbares Prinzip, sondern nur ein Kollektivname für verschiedene Funktionen, die dem Nervensystem, dem Gehirn, ausschließlich zukommen, und die ebenso wie alle andern Funktionen der verschiedenen Organsysteme des Körpers bei Störung des Organs modifizirt werden. Geht das Organ, geht der Körper, dem es angehört, zu Grunde, so hört auch damit die Funktion auf; stirbt der Körper, so hat auch damit die Seele ein vollständiges Ende. Die Natur¬ forschung kennt keine individuelle Fortdauer der Seele nach dem Tode." Richtig ist hier, daß die Naturforschung keine Fortdauer der Seele kennt, falsch ist, daß C. Vogt die Vorstellung erweckt und erwecken will, als sei an das Ende des Körpers auch das der Seele gebunden, und als sei die Seele selbst aus der Erkenntnis des körperlichen Organismus erkannt. Hier liegt die schlimme Verwechslung von bloßem Bedingtsein und Gesetztsein vor. Vom physiologischen Standpunkte aus ist die persönliche Seele, der Geist, allerdings bedingt durch den Organismus des Körpers; das kann uns schon die tägliche Erfahrung des verschiedenen Befindens mit der davon abhängigen Stimmung lehren. Damit ist aber doch nur das eine gesagt, daß die Idee an der Materie zur Offenbarung kommt, nicht, daß sie durch die Materie gesetzt ist. Daß dieses

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/159>, abgerufen am 28.06.2024.