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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Neue Lyrik.

[Beginn Spaltensatz]
Laßt mich noch getrost vollenden,
Was ich ernst und fest begann,
Und auf sanften Göttcrhänden
Traget mich von hinnen dann!
[Spaltenumbruch]
Also sich' ich, von den Schwingen
Der Erfüllung leis umweht --
Und doch siirchtend, daß mein Ringen
Im Verhängnis untergeht!
[Ende Spaltensatz]
Oder ein andres Gedicht: lasäiuin vitg.6, wohl einem der unglücklichsten Augen¬
blicke entsprungen:

[Beginn Spaltensatz]

Dus ist das rsoäium vies,o,
So alt wie diese Welt,
Dus auf des Daseins Höhen
Uns allgemach befällt.

Daß noch die Tonne aufgeht,
Wie abgebraucht und schal;
O Schlummer, süßer Schlummer
Erwachen, welche Qual!

Und dann des Tags Geleise
Das co'ge Einerlei --
Die Erde samt dem Himmel
Ein nusgeblasnes El.

[Spaltenumbruch]

Und rings die Ideale
Wie Disteln aligelopft,
Und jede Kraft verdrossen,
Und jeder Wunsch erschöpft.

Nur einer wird zur Sehnsucht,
Zur Sehnsucht nach dem Tod
Man möcht' ihn gleich erwarten
Im nächsten Straßenkot.

Das ist das taväiuin vieil-o,
Das sich von selbst ergiebt,
Wenn man das liebe Leben
Dereinst zu sehr geliebt.

[Ende Spaltensatz]

Ein so schwaches Gemüt mußte notwendig unter der Geringschätzung der
Welt mehr leiden als ein andres, stärker auf sich selbst beruhendes Herz. Zu
redlich und daher auch zu stolz, den leichten Gelüsten des Publikums entgegen¬
zukommen, streng gegen sich selbst, ohne den Wunsch, mehr zu geben, als was
die natürliche poetische Begabung im freien künstlerischen Triebe schaffen konnte,
mußte Saar zu jenem leidenden Pessimisten werden, als der er in seiner Samm¬
lung vor uns steht. Und noch ein Stachel mag da mitgewirkt haben. Nicht
leicht findet man einen zweiten zeitgenössischen Lyriker, der mit solchem künstle¬
rischen Bewußtsein ans der Stimmung seiner Zeit, mit vorsichtiger Umgehung
aller ältern lyrischen Vorbilder, zu dichten bestrebt war als gerade Ferdinand von
Saar. Er ist im Grunde, soweit sich eben die Gesellschaft nicht gegen ihn
wendet, in allen Überzeugungen mit ihr einverstanden. Gleich seine Mahnung
"Dem Künstler" ist solch ein Charakterzug:

Bescheide stets als Mensch dich und erhebe
Die Kunst nicht höher, als sie mag verdienen;
Wie groß und einzig sie dir stets erschienen:
So manches um dich her hält ihr die Schwebe.
Welch stolzes Hochgefühl dich mich durchbcbe,
Nie sprich es aus mit wichtig eitlen Mienen --
Laß dich die Drohne nennen von den Bienen,
Und unbeirrt im Stillen schaffe, strebe!

Und wie du allen, die dich einst verlachten,
Wie du dem Pöbel darfst den Rücken kehren,
Der niemals kniet in lichtcrfülltcn Tempeln:


Neue Lyrik.

[Beginn Spaltensatz]
Laßt mich noch getrost vollenden,
Was ich ernst und fest begann,
Und auf sanften Göttcrhänden
Traget mich von hinnen dann!
[Spaltenumbruch]
Also sich' ich, von den Schwingen
Der Erfüllung leis umweht —
Und doch siirchtend, daß mein Ringen
Im Verhängnis untergeht!
[Ende Spaltensatz]
Oder ein andres Gedicht: lasäiuin vitg.6, wohl einem der unglücklichsten Augen¬
blicke entsprungen:

[Beginn Spaltensatz]

Dus ist das rsoäium vies,o,
So alt wie diese Welt,
Dus auf des Daseins Höhen
Uns allgemach befällt.

Daß noch die Tonne aufgeht,
Wie abgebraucht und schal;
O Schlummer, süßer Schlummer
Erwachen, welche Qual!

Und dann des Tags Geleise
Das co'ge Einerlei —
Die Erde samt dem Himmel
Ein nusgeblasnes El.

[Spaltenumbruch]

Und rings die Ideale
Wie Disteln aligelopft,
Und jede Kraft verdrossen,
Und jeder Wunsch erschöpft.

Nur einer wird zur Sehnsucht,
Zur Sehnsucht nach dem Tod
Man möcht' ihn gleich erwarten
Im nächsten Straßenkot.

Das ist das taväiuin vieil-o,
Das sich von selbst ergiebt,
Wenn man das liebe Leben
Dereinst zu sehr geliebt.

[Ende Spaltensatz]

Ein so schwaches Gemüt mußte notwendig unter der Geringschätzung der
Welt mehr leiden als ein andres, stärker auf sich selbst beruhendes Herz. Zu
redlich und daher auch zu stolz, den leichten Gelüsten des Publikums entgegen¬
zukommen, streng gegen sich selbst, ohne den Wunsch, mehr zu geben, als was
die natürliche poetische Begabung im freien künstlerischen Triebe schaffen konnte,
mußte Saar zu jenem leidenden Pessimisten werden, als der er in seiner Samm¬
lung vor uns steht. Und noch ein Stachel mag da mitgewirkt haben. Nicht
leicht findet man einen zweiten zeitgenössischen Lyriker, der mit solchem künstle¬
rischen Bewußtsein ans der Stimmung seiner Zeit, mit vorsichtiger Umgehung
aller ältern lyrischen Vorbilder, zu dichten bestrebt war als gerade Ferdinand von
Saar. Er ist im Grunde, soweit sich eben die Gesellschaft nicht gegen ihn
wendet, in allen Überzeugungen mit ihr einverstanden. Gleich seine Mahnung
„Dem Künstler" ist solch ein Charakterzug:

Bescheide stets als Mensch dich und erhebe
Die Kunst nicht höher, als sie mag verdienen;
Wie groß und einzig sie dir stets erschienen:
So manches um dich her hält ihr die Schwebe.
Welch stolzes Hochgefühl dich mich durchbcbe,
Nie sprich es aus mit wichtig eitlen Mienen —
Laß dich die Drohne nennen von den Bienen,
Und unbeirrt im Stillen schaffe, strebe!

Und wie du allen, die dich einst verlachten,
Wie du dem Pöbel darfst den Rücken kehren,
Der niemals kniet in lichtcrfülltcn Tempeln:


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[0628] Neue Lyrik. Laßt mich noch getrost vollenden, Was ich ernst und fest begann, Und auf sanften Göttcrhänden Traget mich von hinnen dann! Also sich' ich, von den Schwingen Der Erfüllung leis umweht — Und doch siirchtend, daß mein Ringen Im Verhängnis untergeht! Oder ein andres Gedicht: lasäiuin vitg.6, wohl einem der unglücklichsten Augen¬ blicke entsprungen: Dus ist das rsoäium vies,o, So alt wie diese Welt, Dus auf des Daseins Höhen Uns allgemach befällt. Daß noch die Tonne aufgeht, Wie abgebraucht und schal; O Schlummer, süßer Schlummer Erwachen, welche Qual! Und dann des Tags Geleise Das co'ge Einerlei — Die Erde samt dem Himmel Ein nusgeblasnes El. Und rings die Ideale Wie Disteln aligelopft, Und jede Kraft verdrossen, Und jeder Wunsch erschöpft. Nur einer wird zur Sehnsucht, Zur Sehnsucht nach dem Tod Man möcht' ihn gleich erwarten Im nächsten Straßenkot. Das ist das taväiuin vieil-o, Das sich von selbst ergiebt, Wenn man das liebe Leben Dereinst zu sehr geliebt. Ein so schwaches Gemüt mußte notwendig unter der Geringschätzung der Welt mehr leiden als ein andres, stärker auf sich selbst beruhendes Herz. Zu redlich und daher auch zu stolz, den leichten Gelüsten des Publikums entgegen¬ zukommen, streng gegen sich selbst, ohne den Wunsch, mehr zu geben, als was die natürliche poetische Begabung im freien künstlerischen Triebe schaffen konnte, mußte Saar zu jenem leidenden Pessimisten werden, als der er in seiner Samm¬ lung vor uns steht. Und noch ein Stachel mag da mitgewirkt haben. Nicht leicht findet man einen zweiten zeitgenössischen Lyriker, der mit solchem künstle¬ rischen Bewußtsein ans der Stimmung seiner Zeit, mit vorsichtiger Umgehung aller ältern lyrischen Vorbilder, zu dichten bestrebt war als gerade Ferdinand von Saar. Er ist im Grunde, soweit sich eben die Gesellschaft nicht gegen ihn wendet, in allen Überzeugungen mit ihr einverstanden. Gleich seine Mahnung „Dem Künstler" ist solch ein Charakterzug: Bescheide stets als Mensch dich und erhebe Die Kunst nicht höher, als sie mag verdienen; Wie groß und einzig sie dir stets erschienen: So manches um dich her hält ihr die Schwebe. Welch stolzes Hochgefühl dich mich durchbcbe, Nie sprich es aus mit wichtig eitlen Mienen — Laß dich die Drohne nennen von den Bienen, Und unbeirrt im Stillen schaffe, strebe! Und wie du allen, die dich einst verlachten, Wie du dem Pöbel darfst den Rücken kehren, Der niemals kniet in lichtcrfülltcn Tempeln:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/628>, abgerufen am 13.11.2024.