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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Neuphilologie"

in häßliches Wort, dieses aus einem deutschen und aus einem
Fremdwort ungleich zusammengesetzte "Neuphilologie," ober es
hat sich nun einmal eingebürgert und gilt als Bezeichnung Mr
eine sehr wichtige Sache. Die Neuphilologie ist eine Schöpfung
unsers Jahrhunderts, sie ist kein Gegensatz zur Alt- oder klassischen
Philologie, aber auch keine Tochter derselben, sie hat noch nicht die Autorität
der alten, und es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß sie ihr diese so bald abgewinnen
wird, aber sie ringt um Gleichberechtigung mit ihr und will nicht mehr hoch¬
mütig über die Achsel angesehen werden. Schwerlich wird die Neuphilologie
je in die Lage kommen, die hervorragende Rolle im Geistesleben der Deutschen
zu spielen, zu welcher die Altphilologie seit den Zeiten Martin Luthers und
Melanchthons durch den Protestantismus berufen gewesen ist; es hat auch eine
Zeit allgemeiner Mystik, metaphysischer Schwärmerei gegeben, damals war die
Altphilologie berufen, das positive nüchterne Gleichgewicht in der Wissenschaft
etwa so herzustellen, wie die Naturwissenschaft vor ihrer gegenwärtigen Hegemonie
es zu thun vermochte. An die Kämpfe der klassischen Philologie knüpfen sich
wichtige Fortschritte der deutschen Geistesentwicklung überhaupt, und darum
lagert die Würde einer großen historischen Macht über ihr, deren sich .die
Neuphilologie nicht rühmen kann. Die Neuphilologie hat es erst in den letzten
Jahrzehnten zu einer stattlichen Gemeinde gebracht; sie ist, was keineswegs zu
ihrem Nachteil gesagt sein soll, dem praktischen Bedürfnis entsprungen und hat
ihre Schüler meist aus den bescheidnen Kreisen der deutschen Gymnasiallehrer
geworben. Seitdem der Unterricht in der englischen und französischen Sprache
in die Gymnasien und Realgymnasien eingeführt worden ist, hat sich eine
größere Anzahl von Studenten der Neuphilologie gewidmet, die nun als eine
Rivalin der Altphilologie um die Vormacht im Mittelschulunterricht ringt und
dabei unterstützt wird von dem realistischen, auf das unmittelbar verwertbare
Wissen das Schwergewicht legenden Geiste der Zeit.

Von dieser Stellung der Neuphilologie, -von ihrem Wesen, ihrem Berufe,
ihrem Betriebe und ihrem Werte in sozialer und in pädagogischer Beziehung
handeln die Neuphilologischen Essays von Gustav Körtina. (Heilbronn,


Grenzboten II. 1S38. 46


Neuphilologie»

in häßliches Wort, dieses aus einem deutschen und aus einem
Fremdwort ungleich zusammengesetzte „Neuphilologie," ober es
hat sich nun einmal eingebürgert und gilt als Bezeichnung Mr
eine sehr wichtige Sache. Die Neuphilologie ist eine Schöpfung
unsers Jahrhunderts, sie ist kein Gegensatz zur Alt- oder klassischen
Philologie, aber auch keine Tochter derselben, sie hat noch nicht die Autorität
der alten, und es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß sie ihr diese so bald abgewinnen
wird, aber sie ringt um Gleichberechtigung mit ihr und will nicht mehr hoch¬
mütig über die Achsel angesehen werden. Schwerlich wird die Neuphilologie
je in die Lage kommen, die hervorragende Rolle im Geistesleben der Deutschen
zu spielen, zu welcher die Altphilologie seit den Zeiten Martin Luthers und
Melanchthons durch den Protestantismus berufen gewesen ist; es hat auch eine
Zeit allgemeiner Mystik, metaphysischer Schwärmerei gegeben, damals war die
Altphilologie berufen, das positive nüchterne Gleichgewicht in der Wissenschaft
etwa so herzustellen, wie die Naturwissenschaft vor ihrer gegenwärtigen Hegemonie
es zu thun vermochte. An die Kämpfe der klassischen Philologie knüpfen sich
wichtige Fortschritte der deutschen Geistesentwicklung überhaupt, und darum
lagert die Würde einer großen historischen Macht über ihr, deren sich .die
Neuphilologie nicht rühmen kann. Die Neuphilologie hat es erst in den letzten
Jahrzehnten zu einer stattlichen Gemeinde gebracht; sie ist, was keineswegs zu
ihrem Nachteil gesagt sein soll, dem praktischen Bedürfnis entsprungen und hat
ihre Schüler meist aus den bescheidnen Kreisen der deutschen Gymnasiallehrer
geworben. Seitdem der Unterricht in der englischen und französischen Sprache
in die Gymnasien und Realgymnasien eingeführt worden ist, hat sich eine
größere Anzahl von Studenten der Neuphilologie gewidmet, die nun als eine
Rivalin der Altphilologie um die Vormacht im Mittelschulunterricht ringt und
dabei unterstützt wird von dem realistischen, auf das unmittelbar verwertbare
Wissen das Schwergewicht legenden Geiste der Zeit.

Von dieser Stellung der Neuphilologie, -von ihrem Wesen, ihrem Berufe,
ihrem Betriebe und ihrem Werte in sozialer und in pädagogischer Beziehung
handeln die Neuphilologischen Essays von Gustav Körtina. (Heilbronn,


Grenzboten II. 1S38. 46
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[0369] [Abbildung] Neuphilologie» in häßliches Wort, dieses aus einem deutschen und aus einem Fremdwort ungleich zusammengesetzte „Neuphilologie," ober es hat sich nun einmal eingebürgert und gilt als Bezeichnung Mr eine sehr wichtige Sache. Die Neuphilologie ist eine Schöpfung unsers Jahrhunderts, sie ist kein Gegensatz zur Alt- oder klassischen Philologie, aber auch keine Tochter derselben, sie hat noch nicht die Autorität der alten, und es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß sie ihr diese so bald abgewinnen wird, aber sie ringt um Gleichberechtigung mit ihr und will nicht mehr hoch¬ mütig über die Achsel angesehen werden. Schwerlich wird die Neuphilologie je in die Lage kommen, die hervorragende Rolle im Geistesleben der Deutschen zu spielen, zu welcher die Altphilologie seit den Zeiten Martin Luthers und Melanchthons durch den Protestantismus berufen gewesen ist; es hat auch eine Zeit allgemeiner Mystik, metaphysischer Schwärmerei gegeben, damals war die Altphilologie berufen, das positive nüchterne Gleichgewicht in der Wissenschaft etwa so herzustellen, wie die Naturwissenschaft vor ihrer gegenwärtigen Hegemonie es zu thun vermochte. An die Kämpfe der klassischen Philologie knüpfen sich wichtige Fortschritte der deutschen Geistesentwicklung überhaupt, und darum lagert die Würde einer großen historischen Macht über ihr, deren sich .die Neuphilologie nicht rühmen kann. Die Neuphilologie hat es erst in den letzten Jahrzehnten zu einer stattlichen Gemeinde gebracht; sie ist, was keineswegs zu ihrem Nachteil gesagt sein soll, dem praktischen Bedürfnis entsprungen und hat ihre Schüler meist aus den bescheidnen Kreisen der deutschen Gymnasiallehrer geworben. Seitdem der Unterricht in der englischen und französischen Sprache in die Gymnasien und Realgymnasien eingeführt worden ist, hat sich eine größere Anzahl von Studenten der Neuphilologie gewidmet, die nun als eine Rivalin der Altphilologie um die Vormacht im Mittelschulunterricht ringt und dabei unterstützt wird von dem realistischen, auf das unmittelbar verwertbare Wissen das Schwergewicht legenden Geiste der Zeit. Von dieser Stellung der Neuphilologie, -von ihrem Wesen, ihrem Berufe, ihrem Betriebe und ihrem Werte in sozialer und in pädagogischer Beziehung handeln die Neuphilologischen Essays von Gustav Körtina. (Heilbronn, Grenzboten II. 1S38. 46

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/369>, abgerufen am 27.07.2024.