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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Henninger, 1887), acht an der Zahl und sehr lesenswert. Denn Körtina, ver¬
einigt mit der Wissenschaft des anerkannten Fachgelehrten die reichen Erfahrungen
eines langjährigen Pädagogen; er hat in seiner Stellung als Universitätslehrer
viele junge Leute für das Gymnasiallehramt heranzubilden gehabt. Den Schul¬
mann erkennt man auch aus der litterarischen Form seiner Essays. Sie machen
den Eindruck frei gehaltener Vorträge, die für ein großes Publikum berechnet
waren und nach dem Stenogramm ohne irgend eine Kürzung abgedruckt wurden;
keine Kleinigkeit ist gering genug, keine mögliche Einwendung gegen des Spre¬
chenden Meinung trivial genug, daß er sie nicht berücksichtigte und mit artiger
Breite kritisirte. Er sucht seinen Gegenstand von allen nur möglichen Seiten
zu beleuchten, ist gern bereit, dem Gegner Recht zu geben, nur folgt dann
jedesmal ein "Aber," welches alle frühere Artigkeit sachlich über den Haufen
wirft. Körting drückt sich immer mit vieler vorsichtiger Umständlichkeit aus,
macht massenhaft Gebrauch von erläuternden Adjektiven, einschränkenden Ad¬
verbien, Synonymen und könnte wohl zuweilen Ungeduld erregen, wenn nicht
bei all seiner zwar sehr charakteristischen, aber doch wenig geschmackvollen Breit¬
spurigkeit das gründliche Wissen, die reiche, unmittelbar aus dem praktischen
Leben geschöpfte Erfahrung und das aufrichtige Wohlwollen für die Jugend, die
ideale Begeisterung für die Sache zu Tage träten.

Wir wollen in Kürze die nach unserm Ermessen wichtigsten Gedanken, welche
Körting in allen seinen Betrachtungen leiten, darstellen; es sind Anregungen,
die auch nicht fachmännische Kreise interessiren dürften.

Mit dem wunderlichen Worte "Neuphilologie" ist auch Körting keines¬
wegs zufrieden, aber er meint, es sei eben schon eine eingebürgerte Bezeichnung,
die man gelten lassen müsse. Fatal ist nur, daß sie zwei philologische Wissen¬
schaften zusammenkoppelt, die innerlich sehr wenig mit einander zu thun haben.
Die französische Philologie ist ein Teil der alle lateinischen Töchtersprachen um¬
fassenden Romanistik. Die englische Philologie gehört in den Kreis der Germa¬
nistik. Man kann ein guter französischer Philologe sein, ohne auf die ältesten
arischen Sprachformen zurückzugehen; der August hingegen muß der weitaus
ältern Geschichte seiner Sprache nachgehen, kann des Altnordischen nicht entbehren
und bewegt sich überhaupt in einer ganz andern Welt. Körting unterscheidet auch
in hergebrachter Weise zwischen Philologie und Linguistik. Die erstere beschäftigt
sich mit der Sprache, sofern sie Ausdruck in der Nationallitteratur gefunden hat;
die letztere studirt die Sprache als Naturerscheinung und knüpft an die Phy¬
siologie der menschlichen Sprachwerkzeuge an, schlägt die Brücke zwischen Natur-
und Geisteswissenschaften. Man kann ein guter Philolog sein und die Linguistik
gerade nur gestreift haben. Die Philologie ist die notwendige Grundlage für
den wissenschaftlichen Betrieb der Litteraturgeschichte, da die Poesie sich in den
Gesetzen der Sprache bewegt; die Linguistik verfolgt allgemeinere Ziele und
bedarf der sprachvergleichenden Forschung, sie ist derzeit noch in ihren An-


Henninger, 1887), acht an der Zahl und sehr lesenswert. Denn Körtina, ver¬
einigt mit der Wissenschaft des anerkannten Fachgelehrten die reichen Erfahrungen
eines langjährigen Pädagogen; er hat in seiner Stellung als Universitätslehrer
viele junge Leute für das Gymnasiallehramt heranzubilden gehabt. Den Schul¬
mann erkennt man auch aus der litterarischen Form seiner Essays. Sie machen
den Eindruck frei gehaltener Vorträge, die für ein großes Publikum berechnet
waren und nach dem Stenogramm ohne irgend eine Kürzung abgedruckt wurden;
keine Kleinigkeit ist gering genug, keine mögliche Einwendung gegen des Spre¬
chenden Meinung trivial genug, daß er sie nicht berücksichtigte und mit artiger
Breite kritisirte. Er sucht seinen Gegenstand von allen nur möglichen Seiten
zu beleuchten, ist gern bereit, dem Gegner Recht zu geben, nur folgt dann
jedesmal ein „Aber," welches alle frühere Artigkeit sachlich über den Haufen
wirft. Körting drückt sich immer mit vieler vorsichtiger Umständlichkeit aus,
macht massenhaft Gebrauch von erläuternden Adjektiven, einschränkenden Ad¬
verbien, Synonymen und könnte wohl zuweilen Ungeduld erregen, wenn nicht
bei all seiner zwar sehr charakteristischen, aber doch wenig geschmackvollen Breit¬
spurigkeit das gründliche Wissen, die reiche, unmittelbar aus dem praktischen
Leben geschöpfte Erfahrung und das aufrichtige Wohlwollen für die Jugend, die
ideale Begeisterung für die Sache zu Tage träten.

Wir wollen in Kürze die nach unserm Ermessen wichtigsten Gedanken, welche
Körting in allen seinen Betrachtungen leiten, darstellen; es sind Anregungen,
die auch nicht fachmännische Kreise interessiren dürften.

Mit dem wunderlichen Worte „Neuphilologie" ist auch Körting keines¬
wegs zufrieden, aber er meint, es sei eben schon eine eingebürgerte Bezeichnung,
die man gelten lassen müsse. Fatal ist nur, daß sie zwei philologische Wissen¬
schaften zusammenkoppelt, die innerlich sehr wenig mit einander zu thun haben.
Die französische Philologie ist ein Teil der alle lateinischen Töchtersprachen um¬
fassenden Romanistik. Die englische Philologie gehört in den Kreis der Germa¬
nistik. Man kann ein guter französischer Philologe sein, ohne auf die ältesten
arischen Sprachformen zurückzugehen; der August hingegen muß der weitaus
ältern Geschichte seiner Sprache nachgehen, kann des Altnordischen nicht entbehren
und bewegt sich überhaupt in einer ganz andern Welt. Körting unterscheidet auch
in hergebrachter Weise zwischen Philologie und Linguistik. Die erstere beschäftigt
sich mit der Sprache, sofern sie Ausdruck in der Nationallitteratur gefunden hat;
die letztere studirt die Sprache als Naturerscheinung und knüpft an die Phy¬
siologie der menschlichen Sprachwerkzeuge an, schlägt die Brücke zwischen Natur-
und Geisteswissenschaften. Man kann ein guter Philolog sein und die Linguistik
gerade nur gestreift haben. Die Philologie ist die notwendige Grundlage für
den wissenschaftlichen Betrieb der Litteraturgeschichte, da die Poesie sich in den
Gesetzen der Sprache bewegt; die Linguistik verfolgt allgemeinere Ziele und
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[0370] Henninger, 1887), acht an der Zahl und sehr lesenswert. Denn Körtina, ver¬ einigt mit der Wissenschaft des anerkannten Fachgelehrten die reichen Erfahrungen eines langjährigen Pädagogen; er hat in seiner Stellung als Universitätslehrer viele junge Leute für das Gymnasiallehramt heranzubilden gehabt. Den Schul¬ mann erkennt man auch aus der litterarischen Form seiner Essays. Sie machen den Eindruck frei gehaltener Vorträge, die für ein großes Publikum berechnet waren und nach dem Stenogramm ohne irgend eine Kürzung abgedruckt wurden; keine Kleinigkeit ist gering genug, keine mögliche Einwendung gegen des Spre¬ chenden Meinung trivial genug, daß er sie nicht berücksichtigte und mit artiger Breite kritisirte. Er sucht seinen Gegenstand von allen nur möglichen Seiten zu beleuchten, ist gern bereit, dem Gegner Recht zu geben, nur folgt dann jedesmal ein „Aber," welches alle frühere Artigkeit sachlich über den Haufen wirft. Körting drückt sich immer mit vieler vorsichtiger Umständlichkeit aus, macht massenhaft Gebrauch von erläuternden Adjektiven, einschränkenden Ad¬ verbien, Synonymen und könnte wohl zuweilen Ungeduld erregen, wenn nicht bei all seiner zwar sehr charakteristischen, aber doch wenig geschmackvollen Breit¬ spurigkeit das gründliche Wissen, die reiche, unmittelbar aus dem praktischen Leben geschöpfte Erfahrung und das aufrichtige Wohlwollen für die Jugend, die ideale Begeisterung für die Sache zu Tage träten. Wir wollen in Kürze die nach unserm Ermessen wichtigsten Gedanken, welche Körting in allen seinen Betrachtungen leiten, darstellen; es sind Anregungen, die auch nicht fachmännische Kreise interessiren dürften. Mit dem wunderlichen Worte „Neuphilologie" ist auch Körting keines¬ wegs zufrieden, aber er meint, es sei eben schon eine eingebürgerte Bezeichnung, die man gelten lassen müsse. Fatal ist nur, daß sie zwei philologische Wissen¬ schaften zusammenkoppelt, die innerlich sehr wenig mit einander zu thun haben. Die französische Philologie ist ein Teil der alle lateinischen Töchtersprachen um¬ fassenden Romanistik. Die englische Philologie gehört in den Kreis der Germa¬ nistik. Man kann ein guter französischer Philologe sein, ohne auf die ältesten arischen Sprachformen zurückzugehen; der August hingegen muß der weitaus ältern Geschichte seiner Sprache nachgehen, kann des Altnordischen nicht entbehren und bewegt sich überhaupt in einer ganz andern Welt. Körting unterscheidet auch in hergebrachter Weise zwischen Philologie und Linguistik. Die erstere beschäftigt sich mit der Sprache, sofern sie Ausdruck in der Nationallitteratur gefunden hat; die letztere studirt die Sprache als Naturerscheinung und knüpft an die Phy¬ siologie der menschlichen Sprachwerkzeuge an, schlägt die Brücke zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Man kann ein guter Philolog sein und die Linguistik gerade nur gestreift haben. Die Philologie ist die notwendige Grundlage für den wissenschaftlichen Betrieb der Litteraturgeschichte, da die Poesie sich in den Gesetzen der Sprache bewegt; die Linguistik verfolgt allgemeinere Ziele und bedarf der sprachvergleichenden Forschung, sie ist derzeit noch in ihren An-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/370>, abgerufen am 01.09.2024.