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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Die Tonleiter im Musikunterricht.

hieraus mannichfache einfache Volksmelodien bilden ließen, die der Oktave nicht
bedurften. Sowie wir aber über den Umfang der natürlichen Skala hinaus¬
gehen, die Töne andrer Oktaven in Anspruch nehmen wollen, müssen wir eben
auch den unliebsamen Sprung von g,-K (im Moll von as-d), den Tritonus
und andre kleine UnVollkommenheiten uns gefallen lassen, die sich hier wie in
andern Gebieten regelmäßig einstellen, sobald für gesteigerte Bedürfnisse Be¬
friedigung erstrebt wird. Der Unterschied in der Anschauung besteht schließlich
nur darin, daß wir eine UnVollkommenheit als solche erkennen und in Kauf
nehmen, aber aufgehört haben, sie als ein von der Natur gewolltes, also in sich
seine Berechtigung tragendes anzusehen.

An den Sprung a-n haben wir uns nun schon seit längster Zeit, an die
Verwendung von as-it als melodisches Intervall seit Mendelssohn, der es noch
häusig als Reizmittel verwendet, gewöhnt. Die vom Grundton zur Oktave
führende Tonleiter ist von allen Klassikern so massenhaft und in so verschiedner
Weise rhythmisirt und harmonisirt verwendet worden, daß wir uns nicht wundern
müssen, sie auch vielfach gespielt zu hören, allerdings nicht zu musikalisch bildenden
Zwecken, sondern meistens im Dienste der instrumentalen Technik. Da letztere
aber ohne die Übung in Tonleitern und zwar durch mehrere Oktaven fortgesetzt,
sich nie in vollkommener Weise wird erzielen lassen, so werden wir dem An¬
hören derselben wohl kaum entgehen können, wenn wir auch bereitwillig die
Genußlosigteit, die uns dies Anhören bereitet, zugestehen.


F. D.


2.

Mein wertester Herr Sonntagsphilvsoph! Ihre von Ihrem Standpunkte
aus ganz zutreffenden Betrachtungen über die Tonleiter habe ich mit großem
Interesse gelesen. Aber ist Ihr Standpunkt der richtige? Verkennen Sie nicht
den Zweck der Tonleiter im Musikunterricht? Ich möchte es fast behaupten.

Sie sagen, daß es die Aufgabe des Unterrichts sei, das angeborne Gefühl
für die Grundsätze des Tonlebens aus seinem schlummernden Zustande zu wecken.
Ganz richtig! Aber das ist durchaus nicht die Aufgabe der Tonleiter, wie
Sie zu meinen scheinen. Diese hat im Musikunterricht nur den einen Zweck:
die gleichmäßige Ausbildung der Finger, keineswegs aber die des musikalischen
Gefühls, zu befördern, wie es schon die vielfach gebrauchte stumme Klaviatur
hinlänglich beweist. Der Gebrauch dieses Apparats wäre überhaupt die einzige
Abhilfe gegen das musikalische Unding, wie Sie die Skala zu nennen belieben,
das Ihrem Ohr so wehe thut, denn die von Ihnen vorgeschlagene ist wohl
kaum verwendbar, wovon ich Sie zu überzeugen versuchen werde.

Die Tonleiter muß schou ihrem Namen, aber vor allen Dingen ihrem
Zwecke nach eine Reihe ununterbrochen aufeinander folgender Töne enthalten,


Die Tonleiter im Musikunterricht.

hieraus mannichfache einfache Volksmelodien bilden ließen, die der Oktave nicht
bedurften. Sowie wir aber über den Umfang der natürlichen Skala hinaus¬
gehen, die Töne andrer Oktaven in Anspruch nehmen wollen, müssen wir eben
auch den unliebsamen Sprung von g,-K (im Moll von as-d), den Tritonus
und andre kleine UnVollkommenheiten uns gefallen lassen, die sich hier wie in
andern Gebieten regelmäßig einstellen, sobald für gesteigerte Bedürfnisse Be¬
friedigung erstrebt wird. Der Unterschied in der Anschauung besteht schließlich
nur darin, daß wir eine UnVollkommenheit als solche erkennen und in Kauf
nehmen, aber aufgehört haben, sie als ein von der Natur gewolltes, also in sich
seine Berechtigung tragendes anzusehen.

An den Sprung a-n haben wir uns nun schon seit längster Zeit, an die
Verwendung von as-it als melodisches Intervall seit Mendelssohn, der es noch
häusig als Reizmittel verwendet, gewöhnt. Die vom Grundton zur Oktave
führende Tonleiter ist von allen Klassikern so massenhaft und in so verschiedner
Weise rhythmisirt und harmonisirt verwendet worden, daß wir uns nicht wundern
müssen, sie auch vielfach gespielt zu hören, allerdings nicht zu musikalisch bildenden
Zwecken, sondern meistens im Dienste der instrumentalen Technik. Da letztere
aber ohne die Übung in Tonleitern und zwar durch mehrere Oktaven fortgesetzt,
sich nie in vollkommener Weise wird erzielen lassen, so werden wir dem An¬
hören derselben wohl kaum entgehen können, wenn wir auch bereitwillig die
Genußlosigteit, die uns dies Anhören bereitet, zugestehen.


F. D.


2.

Mein wertester Herr Sonntagsphilvsoph! Ihre von Ihrem Standpunkte
aus ganz zutreffenden Betrachtungen über die Tonleiter habe ich mit großem
Interesse gelesen. Aber ist Ihr Standpunkt der richtige? Verkennen Sie nicht
den Zweck der Tonleiter im Musikunterricht? Ich möchte es fast behaupten.

Sie sagen, daß es die Aufgabe des Unterrichts sei, das angeborne Gefühl
für die Grundsätze des Tonlebens aus seinem schlummernden Zustande zu wecken.
Ganz richtig! Aber das ist durchaus nicht die Aufgabe der Tonleiter, wie
Sie zu meinen scheinen. Diese hat im Musikunterricht nur den einen Zweck:
die gleichmäßige Ausbildung der Finger, keineswegs aber die des musikalischen
Gefühls, zu befördern, wie es schon die vielfach gebrauchte stumme Klaviatur
hinlänglich beweist. Der Gebrauch dieses Apparats wäre überhaupt die einzige
Abhilfe gegen das musikalische Unding, wie Sie die Skala zu nennen belieben,
das Ihrem Ohr so wehe thut, denn die von Ihnen vorgeschlagene ist wohl
kaum verwendbar, wovon ich Sie zu überzeugen versuchen werde.

Die Tonleiter muß schou ihrem Namen, aber vor allen Dingen ihrem
Zwecke nach eine Reihe ununterbrochen aufeinander folgender Töne enthalten,


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[0647] Die Tonleiter im Musikunterricht. hieraus mannichfache einfache Volksmelodien bilden ließen, die der Oktave nicht bedurften. Sowie wir aber über den Umfang der natürlichen Skala hinaus¬ gehen, die Töne andrer Oktaven in Anspruch nehmen wollen, müssen wir eben auch den unliebsamen Sprung von g,-K (im Moll von as-d), den Tritonus und andre kleine UnVollkommenheiten uns gefallen lassen, die sich hier wie in andern Gebieten regelmäßig einstellen, sobald für gesteigerte Bedürfnisse Be¬ friedigung erstrebt wird. Der Unterschied in der Anschauung besteht schließlich nur darin, daß wir eine UnVollkommenheit als solche erkennen und in Kauf nehmen, aber aufgehört haben, sie als ein von der Natur gewolltes, also in sich seine Berechtigung tragendes anzusehen. An den Sprung a-n haben wir uns nun schon seit längster Zeit, an die Verwendung von as-it als melodisches Intervall seit Mendelssohn, der es noch häusig als Reizmittel verwendet, gewöhnt. Die vom Grundton zur Oktave führende Tonleiter ist von allen Klassikern so massenhaft und in so verschiedner Weise rhythmisirt und harmonisirt verwendet worden, daß wir uns nicht wundern müssen, sie auch vielfach gespielt zu hören, allerdings nicht zu musikalisch bildenden Zwecken, sondern meistens im Dienste der instrumentalen Technik. Da letztere aber ohne die Übung in Tonleitern und zwar durch mehrere Oktaven fortgesetzt, sich nie in vollkommener Weise wird erzielen lassen, so werden wir dem An¬ hören derselben wohl kaum entgehen können, wenn wir auch bereitwillig die Genußlosigteit, die uns dies Anhören bereitet, zugestehen. F. D. 2. Mein wertester Herr Sonntagsphilvsoph! Ihre von Ihrem Standpunkte aus ganz zutreffenden Betrachtungen über die Tonleiter habe ich mit großem Interesse gelesen. Aber ist Ihr Standpunkt der richtige? Verkennen Sie nicht den Zweck der Tonleiter im Musikunterricht? Ich möchte es fast behaupten. Sie sagen, daß es die Aufgabe des Unterrichts sei, das angeborne Gefühl für die Grundsätze des Tonlebens aus seinem schlummernden Zustande zu wecken. Ganz richtig! Aber das ist durchaus nicht die Aufgabe der Tonleiter, wie Sie zu meinen scheinen. Diese hat im Musikunterricht nur den einen Zweck: die gleichmäßige Ausbildung der Finger, keineswegs aber die des musikalischen Gefühls, zu befördern, wie es schon die vielfach gebrauchte stumme Klaviatur hinlänglich beweist. Der Gebrauch dieses Apparats wäre überhaupt die einzige Abhilfe gegen das musikalische Unding, wie Sie die Skala zu nennen belieben, das Ihrem Ohr so wehe thut, denn die von Ihnen vorgeschlagene ist wohl kaum verwendbar, wovon ich Sie zu überzeugen versuchen werde. Die Tonleiter muß schou ihrem Namen, aber vor allen Dingen ihrem Zwecke nach eine Reihe ununterbrochen aufeinander folgender Töne enthalten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/647>, abgerufen am 17.09.2024.