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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Gin neuer Phantasus.

Am 11. August morgens um vier Uhr kam ein Verwandter Bruats zu uns.
Bruat ließ uns durch ihn sagen, wir möchten uns so bald als möglich in
Sicherheit bringen. Wir nahmen Abschied von einander, indem wir uns umarmten
und uns in dem Lande der Freiheit dem Schutze Gottes empfahlen. Auf wunder¬
bare Weise ist es uns allen dreien möglich gewesen, unsre Heimat wiederzusehen.

Alle verwundeten Offiziere waren niedergemetzelt worden, mit Ausnahme des
Herrn von Report, dem es gelang, zu entkommen, obgleich er einen Schuß durch
das Bein erhalten hatte.

Man sieht, daß durch diesen Bericht, der den Stempel der Wahrheit an
der Stirn trägt, mehrere bisher allgemein geglaubte Dinge in ganz anderm
Lichte erscheinen. Von Santerre wurde erzählt, er sei so feige gewesen, daß
ihm Westermann mit auf die Brust gesetztem Degen den Befehl zum Angriffe
der Tuilerien habe abtrotzen müssen; bei Durier dagegen läßt er es keineswegs
an Mut fehlen. Wenn sonst erzählt wird, der Oberst der Schweizer habe den
Befehl zu feuern gegeben, so ergiebt sich ans Durlers Bericht, erstens, daß gar
kein Oberst, sondern nur ein Kapitän die Schweizer in den Tuilerien komman-
dirte, und daß der Befehl zu feuern nicht von ihm ausging. Während bis
jetzt angenommen wurde, der König habe d'Hervillh mit dem Befehl abgesandt,
das Feuer einzustellen, sobald die ersten Schüsse gefallen waren, ergiebt sich
aus Durlers Bericht als unzweifelhaft, daß der König in diesem Punkte voll¬
ständig richtig gehandelt hatte: er ließ dem Kampfe ein Ende machen, als die
Schweizer besiegt waren und zurückgehen mußten. So kann denn auch keine
Rede mehr davon sein, daß die Schweizer mitten im Siege durch den könig¬
lichen Befehl aufgehalten worden seien: sie mußten den Kampf einstellen, und
hätten, da ihnen die Munition ausgegangen war, die Tuilerien nicht mehr
halten können. Durch seinen Befehl, den Kampf einzustellen, that der König
alles, was in seiner Macht stand, um wenigstens einem Teile seiner treuen
Soldaten das Leben zu retten.




Ein neuer phantasus.

wei Menschenalter sind vergangen, seit Ludwig Tieck unter dem
Titel des "Phantasus" seine Jugenderzählungen, dramutisirten
Märchen und satirischen Spiele gesammelt und in einen jener
Nahmen gefaßt hat, die seit Boecaccios Vorgang im "Decamerone"
in der Erzähluugsliteratur aller Völker wiederkehren. Als Tiecks
"Phantasus" zu erscheinen begann, war es eine schlimme Zeit -- der erste Band
mit der wahrhaft poetischen Einleitung, mit den phantasievollsten Erzählungen


Gin neuer Phantasus.

Am 11. August morgens um vier Uhr kam ein Verwandter Bruats zu uns.
Bruat ließ uns durch ihn sagen, wir möchten uns so bald als möglich in
Sicherheit bringen. Wir nahmen Abschied von einander, indem wir uns umarmten
und uns in dem Lande der Freiheit dem Schutze Gottes empfahlen. Auf wunder¬
bare Weise ist es uns allen dreien möglich gewesen, unsre Heimat wiederzusehen.

Alle verwundeten Offiziere waren niedergemetzelt worden, mit Ausnahme des
Herrn von Report, dem es gelang, zu entkommen, obgleich er einen Schuß durch
das Bein erhalten hatte.

Man sieht, daß durch diesen Bericht, der den Stempel der Wahrheit an
der Stirn trägt, mehrere bisher allgemein geglaubte Dinge in ganz anderm
Lichte erscheinen. Von Santerre wurde erzählt, er sei so feige gewesen, daß
ihm Westermann mit auf die Brust gesetztem Degen den Befehl zum Angriffe
der Tuilerien habe abtrotzen müssen; bei Durier dagegen läßt er es keineswegs
an Mut fehlen. Wenn sonst erzählt wird, der Oberst der Schweizer habe den
Befehl zu feuern gegeben, so ergiebt sich ans Durlers Bericht, erstens, daß gar
kein Oberst, sondern nur ein Kapitän die Schweizer in den Tuilerien komman-
dirte, und daß der Befehl zu feuern nicht von ihm ausging. Während bis
jetzt angenommen wurde, der König habe d'Hervillh mit dem Befehl abgesandt,
das Feuer einzustellen, sobald die ersten Schüsse gefallen waren, ergiebt sich
aus Durlers Bericht als unzweifelhaft, daß der König in diesem Punkte voll¬
ständig richtig gehandelt hatte: er ließ dem Kampfe ein Ende machen, als die
Schweizer besiegt waren und zurückgehen mußten. So kann denn auch keine
Rede mehr davon sein, daß die Schweizer mitten im Siege durch den könig¬
lichen Befehl aufgehalten worden seien: sie mußten den Kampf einstellen, und
hätten, da ihnen die Munition ausgegangen war, die Tuilerien nicht mehr
halten können. Durch seinen Befehl, den Kampf einzustellen, that der König
alles, was in seiner Macht stand, um wenigstens einem Teile seiner treuen
Soldaten das Leben zu retten.




Ein neuer phantasus.

wei Menschenalter sind vergangen, seit Ludwig Tieck unter dem
Titel des „Phantasus" seine Jugenderzählungen, dramutisirten
Märchen und satirischen Spiele gesammelt und in einen jener
Nahmen gefaßt hat, die seit Boecaccios Vorgang im „Decamerone"
in der Erzähluugsliteratur aller Völker wiederkehren. Als Tiecks
„Phantasus" zu erscheinen begann, war es eine schlimme Zeit — der erste Band
mit der wahrhaft poetischen Einleitung, mit den phantasievollsten Erzählungen


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[0530] Gin neuer Phantasus. Am 11. August morgens um vier Uhr kam ein Verwandter Bruats zu uns. Bruat ließ uns durch ihn sagen, wir möchten uns so bald als möglich in Sicherheit bringen. Wir nahmen Abschied von einander, indem wir uns umarmten und uns in dem Lande der Freiheit dem Schutze Gottes empfahlen. Auf wunder¬ bare Weise ist es uns allen dreien möglich gewesen, unsre Heimat wiederzusehen. Alle verwundeten Offiziere waren niedergemetzelt worden, mit Ausnahme des Herrn von Report, dem es gelang, zu entkommen, obgleich er einen Schuß durch das Bein erhalten hatte. Man sieht, daß durch diesen Bericht, der den Stempel der Wahrheit an der Stirn trägt, mehrere bisher allgemein geglaubte Dinge in ganz anderm Lichte erscheinen. Von Santerre wurde erzählt, er sei so feige gewesen, daß ihm Westermann mit auf die Brust gesetztem Degen den Befehl zum Angriffe der Tuilerien habe abtrotzen müssen; bei Durier dagegen läßt er es keineswegs an Mut fehlen. Wenn sonst erzählt wird, der Oberst der Schweizer habe den Befehl zu feuern gegeben, so ergiebt sich ans Durlers Bericht, erstens, daß gar kein Oberst, sondern nur ein Kapitän die Schweizer in den Tuilerien komman- dirte, und daß der Befehl zu feuern nicht von ihm ausging. Während bis jetzt angenommen wurde, der König habe d'Hervillh mit dem Befehl abgesandt, das Feuer einzustellen, sobald die ersten Schüsse gefallen waren, ergiebt sich aus Durlers Bericht als unzweifelhaft, daß der König in diesem Punkte voll¬ ständig richtig gehandelt hatte: er ließ dem Kampfe ein Ende machen, als die Schweizer besiegt waren und zurückgehen mußten. So kann denn auch keine Rede mehr davon sein, daß die Schweizer mitten im Siege durch den könig¬ lichen Befehl aufgehalten worden seien: sie mußten den Kampf einstellen, und hätten, da ihnen die Munition ausgegangen war, die Tuilerien nicht mehr halten können. Durch seinen Befehl, den Kampf einzustellen, that der König alles, was in seiner Macht stand, um wenigstens einem Teile seiner treuen Soldaten das Leben zu retten. Ein neuer phantasus. wei Menschenalter sind vergangen, seit Ludwig Tieck unter dem Titel des „Phantasus" seine Jugenderzählungen, dramutisirten Märchen und satirischen Spiele gesammelt und in einen jener Nahmen gefaßt hat, die seit Boecaccios Vorgang im „Decamerone" in der Erzähluugsliteratur aller Völker wiederkehren. Als Tiecks „Phantasus" zu erscheinen begann, war es eine schlimme Zeit — der erste Band mit der wahrhaft poetischen Einleitung, mit den phantasievollsten Erzählungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/530>, abgerufen am 17.09.2024.