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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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fleus ein Mitglied vor, den vorausgegangenen zu folgen. Gehe der Paragraph
durch, so sei eine massenhafte Auswanderung aus Böhmen und Mähren zu
gewärtigen. Solchen Entschlüssen lägen die edelsten Gefühlen zu Grunde, acht
materielle Interessen, man wolle "der Schmach entgehen, in einem freien Staate
der einzige Unfreie zu sein." Auf diese Weise verliere aber das Vaterland
"sowohl Kapitalien als Gewerbskräfte." Bekanntlich wurden sie der Schmach,
die einzigen Unfreien zu sein, überhoben, und so scheint denn die angedrohte
Massenauswanderung unterblieben zu sein.

Die zweite Anekdote berührt den Verfasser persönlich. "Junger Ehemann
und Vater w sxs, hatte er sich einen Weihnachtsurlaub erbeten, und als er
nach Kremsier zurückkerrte, erfuhr er, daß er einen Abänderungsantrag zu den
Grundrechten ausgearbeitet habe, der sich gedruckt bereits in allen Handen be¬
fand. Da viele der von den Ministern vereinbarten Paragraphen nicht einmal
seinen Anschauungen entsprachen, wurde ihm zugestanden, daß er solche acht
zu verteidigen brauche. Aber der Antrag blieb doch der "Helfertsche."




Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung.
von August Llassen. (Schluß.)

on den weitreichendsten Folgen ist nun auch jene Art des
brauchs des Wortes Entwicklung, welche mit dem vollen Be¬
wußtsein, daß Ursache und Wirkung in dem Begriff enthalten
sind, die Vorstellung verbindet, es könnten und müßten sich auch
solche Ideen entwickeln, die niemals weder für den äußern noch
innern Sinn zur Erscheinung kommen. Ganz besonders ist es die Idee
er Freiheit, die man in der Welt sich entwickeln läßt, nachdem man das Ab¬
solute oder den Weltgeist nicht mehr mit Schelling oder Hegel glaubt wahr¬
nehmen zu können. Daß die Freiheit sich in der Welt allmählich entwickle, etwa
so, daß aus den höhern Tieren sich erste Menschen im Urzustande entwickeln, aus
diesen sittlich und religiös gebildete, aus ihnen wieder als die höchste Stufe
Wer irdischen Vollkommenheit Philosophen, das glauben nicht nur die Philo¬
sophen selber, sondern mit ihnen ein unabsehbar großer Teil der akademisch
Gebildeten überhaupt. Hat doch Wundt in seinem großen Werke über Ethik
als das alle sittlichen Vorstellungen beherrschende Gesetz die Entwicklung hin¬
gestellt. Aus dem Urzustande des Menschengeschlechts, in welchem noch ein
rohes Selbstgefühl alle sozialen Triebe überwuchert und die natürliche Kraft


fleus ein Mitglied vor, den vorausgegangenen zu folgen. Gehe der Paragraph
durch, so sei eine massenhafte Auswanderung aus Böhmen und Mähren zu
gewärtigen. Solchen Entschlüssen lägen die edelsten Gefühlen zu Grunde, acht
materielle Interessen, man wolle „der Schmach entgehen, in einem freien Staate
der einzige Unfreie zu sein." Auf diese Weise verliere aber das Vaterland
„sowohl Kapitalien als Gewerbskräfte." Bekanntlich wurden sie der Schmach,
die einzigen Unfreien zu sein, überhoben, und so scheint denn die angedrohte
Massenauswanderung unterblieben zu sein.

Die zweite Anekdote berührt den Verfasser persönlich. „Junger Ehemann
und Vater w sxs, hatte er sich einen Weihnachtsurlaub erbeten, und als er
nach Kremsier zurückkerrte, erfuhr er, daß er einen Abänderungsantrag zu den
Grundrechten ausgearbeitet habe, der sich gedruckt bereits in allen Handen be¬
fand. Da viele der von den Ministern vereinbarten Paragraphen nicht einmal
seinen Anschauungen entsprachen, wurde ihm zugestanden, daß er solche acht
zu verteidigen brauche. Aber der Antrag blieb doch der „Helfertsche."




Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung.
von August Llassen. (Schluß.)

on den weitreichendsten Folgen ist nun auch jene Art des
brauchs des Wortes Entwicklung, welche mit dem vollen Be¬
wußtsein, daß Ursache und Wirkung in dem Begriff enthalten
sind, die Vorstellung verbindet, es könnten und müßten sich auch
solche Ideen entwickeln, die niemals weder für den äußern noch
innern Sinn zur Erscheinung kommen. Ganz besonders ist es die Idee
er Freiheit, die man in der Welt sich entwickeln läßt, nachdem man das Ab¬
solute oder den Weltgeist nicht mehr mit Schelling oder Hegel glaubt wahr¬
nehmen zu können. Daß die Freiheit sich in der Welt allmählich entwickle, etwa
so, daß aus den höhern Tieren sich erste Menschen im Urzustande entwickeln, aus
diesen sittlich und religiös gebildete, aus ihnen wieder als die höchste Stufe
Wer irdischen Vollkommenheit Philosophen, das glauben nicht nur die Philo¬
sophen selber, sondern mit ihnen ein unabsehbar großer Teil der akademisch
Gebildeten überhaupt. Hat doch Wundt in seinem großen Werke über Ethik
als das alle sittlichen Vorstellungen beherrschende Gesetz die Entwicklung hin¬
gestellt. Aus dem Urzustande des Menschengeschlechts, in welchem noch ein
rohes Selbstgefühl alle sozialen Triebe überwuchert und die natürliche Kraft


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/359>, abgerufen am 17.09.2024.