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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung.

und Größe allein den Wert des Menschen bestimmt, entwickelt sich durch den
Einfluß religiöser Vorstellungen eine Art von Sittlichkeit, aber damit zugleich
eine Trennung verschiedner Völker nach ihren verschiednen Sitten und Lebens¬
gewohnheiten. Damit beginnt die zweite Stufe der Entwicklung, auf welcher
die sittlichen Begriffe nach Völkern und Ländern, nach verschiednen Religionen
und Sitten auseinandergehen. Die dritte Stufe wird dann wieder durch einen
Wandel der religiösen Anschauungen eingeleitet, indem sich in allmählich wach¬
sendem Maße der Einfluß der Philosophie geltend macht. Durch die "humane
Tendenz," welche vorzugsweise von der Philosophie ausgeht, werden dann die
Unterschiede der Religionen sowie der Nationen wieder verwischt und die sitt¬
lichen Begriffe werden wieder einheitlich gestaltet.

Man sieht, diese Entwicklung der sittlichen Ideen geht genau nach der
Hegelschen Vorschrift vom unendlichen dialektischen Prozeß des sich selber den¬
kenden absoluten Geistes. Wie dieser stets drei Stufen zu durchlaufen hatte,
wie die Idee sich erst selber setzt, dann sich in die Natur entläßt und sich
als ein andres gegenständliches Leben sich selber gegenüber setzt und endlich
wieder frei in sich zurückkehrt in das Reich des Geistes, ebenso macht es der
Begriff des Sittlichen bei Wundt; als ob man aus dem Begriffe allein das
Dasein der wirklichen Welt und des Menschengeistes ableiten könnte! Die
Kantischen Kategorien, die doch nichts andres sind als die notwendigen Formen
des Denkens, hat man als ein unbrauchbares, schwerfälliges Gerüst beiseite ge¬
worfen, aber die unklaren Phantasmen Hegels läßt man ruhig in allen Wissen¬
schaften weiter ihren Spuk treiben.

In praktische Anschauungen der Politik und des wirtschaftlichen Lebens
übertragen, hat die Theorie der ewig fortschreitenden Entwicklung einen viel
größern Einfluß, als man in der Regel anzunehmen geneigt ist. Bei den ge¬
mäßigt Liberalen ist daraus die Grundanschauung entstanden, daß sich die
Freiheit im Staate und im sozialen Leben notwendig immer weiter entwickeln
müsse bis zur höchsten Stufe der Kultur, die man sich als den Zustand der
vollkommensten Freiheit denkt. Bei den Radikalen aller Länder und Völker
gilt die Freiheit als die Vorbedingung für alle weitere Entwicklung der Anlagen
des Menschen überhaupt. Es gilt als fester Glaubenssatz, daß, wenn nur erst
dem Volke ganz vollkommene Freiheit gegeben sei, sich von selber alles aufs
schönste bis zur vollendeten Glückseligkeit entwickeln werde. Solche Grundsätze
nehmen sich innerhalb der sogenannten guten Gesellschaft, mit idealistischen
Phrasen verbrämt, auf den Nednerbühnen der Parlamente, noch ziemlich
friedlich und unschuldig aus, aber in den rohern Massen des halbgebildeter
Volkes werden durch einfach konsequente Weiterbildung derselben Gedanken höchst
gefährliche Mächte daraus. Die scheinbar tolle Idee, daß die Abschaffung aller
Regierungen der Anfang des wahren Volkswohles sein müsse, ist nur eine
folgerichtige Übertreibung jener Entwicklungstheorie aus der Freiheit.


Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung.

und Größe allein den Wert des Menschen bestimmt, entwickelt sich durch den
Einfluß religiöser Vorstellungen eine Art von Sittlichkeit, aber damit zugleich
eine Trennung verschiedner Völker nach ihren verschiednen Sitten und Lebens¬
gewohnheiten. Damit beginnt die zweite Stufe der Entwicklung, auf welcher
die sittlichen Begriffe nach Völkern und Ländern, nach verschiednen Religionen
und Sitten auseinandergehen. Die dritte Stufe wird dann wieder durch einen
Wandel der religiösen Anschauungen eingeleitet, indem sich in allmählich wach¬
sendem Maße der Einfluß der Philosophie geltend macht. Durch die „humane
Tendenz," welche vorzugsweise von der Philosophie ausgeht, werden dann die
Unterschiede der Religionen sowie der Nationen wieder verwischt und die sitt¬
lichen Begriffe werden wieder einheitlich gestaltet.

Man sieht, diese Entwicklung der sittlichen Ideen geht genau nach der
Hegelschen Vorschrift vom unendlichen dialektischen Prozeß des sich selber den¬
kenden absoluten Geistes. Wie dieser stets drei Stufen zu durchlaufen hatte,
wie die Idee sich erst selber setzt, dann sich in die Natur entläßt und sich
als ein andres gegenständliches Leben sich selber gegenüber setzt und endlich
wieder frei in sich zurückkehrt in das Reich des Geistes, ebenso macht es der
Begriff des Sittlichen bei Wundt; als ob man aus dem Begriffe allein das
Dasein der wirklichen Welt und des Menschengeistes ableiten könnte! Die
Kantischen Kategorien, die doch nichts andres sind als die notwendigen Formen
des Denkens, hat man als ein unbrauchbares, schwerfälliges Gerüst beiseite ge¬
worfen, aber die unklaren Phantasmen Hegels läßt man ruhig in allen Wissen¬
schaften weiter ihren Spuk treiben.

In praktische Anschauungen der Politik und des wirtschaftlichen Lebens
übertragen, hat die Theorie der ewig fortschreitenden Entwicklung einen viel
größern Einfluß, als man in der Regel anzunehmen geneigt ist. Bei den ge¬
mäßigt Liberalen ist daraus die Grundanschauung entstanden, daß sich die
Freiheit im Staate und im sozialen Leben notwendig immer weiter entwickeln
müsse bis zur höchsten Stufe der Kultur, die man sich als den Zustand der
vollkommensten Freiheit denkt. Bei den Radikalen aller Länder und Völker
gilt die Freiheit als die Vorbedingung für alle weitere Entwicklung der Anlagen
des Menschen überhaupt. Es gilt als fester Glaubenssatz, daß, wenn nur erst
dem Volke ganz vollkommene Freiheit gegeben sei, sich von selber alles aufs
schönste bis zur vollendeten Glückseligkeit entwickeln werde. Solche Grundsätze
nehmen sich innerhalb der sogenannten guten Gesellschaft, mit idealistischen
Phrasen verbrämt, auf den Nednerbühnen der Parlamente, noch ziemlich
friedlich und unschuldig aus, aber in den rohern Massen des halbgebildeter
Volkes werden durch einfach konsequente Weiterbildung derselben Gedanken höchst
gefährliche Mächte daraus. Die scheinbar tolle Idee, daß die Abschaffung aller
Regierungen der Anfang des wahren Volkswohles sein müsse, ist nur eine
folgerichtige Übertreibung jener Entwicklungstheorie aus der Freiheit.


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[0360] Der Mißbrauch des Wortes Entwicklung. und Größe allein den Wert des Menschen bestimmt, entwickelt sich durch den Einfluß religiöser Vorstellungen eine Art von Sittlichkeit, aber damit zugleich eine Trennung verschiedner Völker nach ihren verschiednen Sitten und Lebens¬ gewohnheiten. Damit beginnt die zweite Stufe der Entwicklung, auf welcher die sittlichen Begriffe nach Völkern und Ländern, nach verschiednen Religionen und Sitten auseinandergehen. Die dritte Stufe wird dann wieder durch einen Wandel der religiösen Anschauungen eingeleitet, indem sich in allmählich wach¬ sendem Maße der Einfluß der Philosophie geltend macht. Durch die „humane Tendenz," welche vorzugsweise von der Philosophie ausgeht, werden dann die Unterschiede der Religionen sowie der Nationen wieder verwischt und die sitt¬ lichen Begriffe werden wieder einheitlich gestaltet. Man sieht, diese Entwicklung der sittlichen Ideen geht genau nach der Hegelschen Vorschrift vom unendlichen dialektischen Prozeß des sich selber den¬ kenden absoluten Geistes. Wie dieser stets drei Stufen zu durchlaufen hatte, wie die Idee sich erst selber setzt, dann sich in die Natur entläßt und sich als ein andres gegenständliches Leben sich selber gegenüber setzt und endlich wieder frei in sich zurückkehrt in das Reich des Geistes, ebenso macht es der Begriff des Sittlichen bei Wundt; als ob man aus dem Begriffe allein das Dasein der wirklichen Welt und des Menschengeistes ableiten könnte! Die Kantischen Kategorien, die doch nichts andres sind als die notwendigen Formen des Denkens, hat man als ein unbrauchbares, schwerfälliges Gerüst beiseite ge¬ worfen, aber die unklaren Phantasmen Hegels läßt man ruhig in allen Wissen¬ schaften weiter ihren Spuk treiben. In praktische Anschauungen der Politik und des wirtschaftlichen Lebens übertragen, hat die Theorie der ewig fortschreitenden Entwicklung einen viel größern Einfluß, als man in der Regel anzunehmen geneigt ist. Bei den ge¬ mäßigt Liberalen ist daraus die Grundanschauung entstanden, daß sich die Freiheit im Staate und im sozialen Leben notwendig immer weiter entwickeln müsse bis zur höchsten Stufe der Kultur, die man sich als den Zustand der vollkommensten Freiheit denkt. Bei den Radikalen aller Länder und Völker gilt die Freiheit als die Vorbedingung für alle weitere Entwicklung der Anlagen des Menschen überhaupt. Es gilt als fester Glaubenssatz, daß, wenn nur erst dem Volke ganz vollkommene Freiheit gegeben sei, sich von selber alles aufs schönste bis zur vollendeten Glückseligkeit entwickeln werde. Solche Grundsätze nehmen sich innerhalb der sogenannten guten Gesellschaft, mit idealistischen Phrasen verbrämt, auf den Nednerbühnen der Parlamente, noch ziemlich friedlich und unschuldig aus, aber in den rohern Massen des halbgebildeter Volkes werden durch einfach konsequente Weiterbildung derselben Gedanken höchst gefährliche Mächte daraus. Die scheinbar tolle Idee, daß die Abschaffung aller Regierungen der Anfang des wahren Volkswohles sein müsse, ist nur eine folgerichtige Übertreibung jener Entwicklungstheorie aus der Freiheit.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/360>, abgerufen am 17.09.2024.