Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Jugenderinnerungen.
von Lrnst Willkomm. (Fortsetzung.)

as Haus, in dem wir Unterkunft fanden, lag in einer Seiten¬
gasse und schien besonders stark von herumziehenden Juden be¬
sucht zu werden. Einige derselben, unter ihnen ein würdig aus¬
sehender alter Mann mit fast schneeweißem Barte, teilten sogar
mit uns das Schlafgemach. Dieser ernste, stille, alte Mann
ward mir merkwürdig durch die Andacht, mit welcher er am nächsten Morgen im
gemeinsamen Gastzimmer sein Gebet verrichtete. Zum erstenmale im Leben
sah ich einen orthodoxen Juden, den Gebetriemen um Kopf und Arm ge¬
schlungen, seiner andersgläubigen Umgebung nicht die geringste Beachtung
schenkend, in solcher Weise tief demütig zu Jehovah flehen. Der Bater hatte
wohl Recht, uns Brüdern den inbrünstig betenden Juden als ein Muster aufzu¬
stellen mit den Worten: Ein so fester Glaube kann Berge versetzen und ist
Gott jedenfalls angenehm.

Was hielt uns Christen denn ab, in unsrer Weise uns ebenfalls an Gott
zu wenden, ohne der Spötter zu achten? Mir erschien der alte Jude frömmer
und besser als wir, obwohl er auch zu den Nachkommen der fanatischen Thoren
gehörte, die einst ihr "Kreuzige ihn!" gerufen hatten. Ich hütete mich aber
wohl, meine kindisch ketzerischen Gedanken laut werden zu lassen.

Nach der Rückkehr von der Badereise begann daheim wieder das alte ge¬
regelte Leben. Nur durch den Abgang meines ältern Bruders auf das Gymnasium
in Zitten erlitt es eine vorübergehende Unterbrechung. In unsern Lebensge-
wohnheiten ward dadurch nichts geändert, nur daß ich jetzt als der Älteste im
Hause eine etwas andre Stellung insofern einnahm, als ich mehr als früher
um den Vater sein und unter seiner Aufsicht meine Arbeiten machen mußte.
Kurz, ich nahm die Stelle des Bruders ein. Ging der Vater über Land oder




Jugenderinnerungen.
von Lrnst Willkomm. (Fortsetzung.)

as Haus, in dem wir Unterkunft fanden, lag in einer Seiten¬
gasse und schien besonders stark von herumziehenden Juden be¬
sucht zu werden. Einige derselben, unter ihnen ein würdig aus¬
sehender alter Mann mit fast schneeweißem Barte, teilten sogar
mit uns das Schlafgemach. Dieser ernste, stille, alte Mann
ward mir merkwürdig durch die Andacht, mit welcher er am nächsten Morgen im
gemeinsamen Gastzimmer sein Gebet verrichtete. Zum erstenmale im Leben
sah ich einen orthodoxen Juden, den Gebetriemen um Kopf und Arm ge¬
schlungen, seiner andersgläubigen Umgebung nicht die geringste Beachtung
schenkend, in solcher Weise tief demütig zu Jehovah flehen. Der Bater hatte
wohl Recht, uns Brüdern den inbrünstig betenden Juden als ein Muster aufzu¬
stellen mit den Worten: Ein so fester Glaube kann Berge versetzen und ist
Gott jedenfalls angenehm.

Was hielt uns Christen denn ab, in unsrer Weise uns ebenfalls an Gott
zu wenden, ohne der Spötter zu achten? Mir erschien der alte Jude frömmer
und besser als wir, obwohl er auch zu den Nachkommen der fanatischen Thoren
gehörte, die einst ihr „Kreuzige ihn!" gerufen hatten. Ich hütete mich aber
wohl, meine kindisch ketzerischen Gedanken laut werden zu lassen.

Nach der Rückkehr von der Badereise begann daheim wieder das alte ge¬
regelte Leben. Nur durch den Abgang meines ältern Bruders auf das Gymnasium
in Zitten erlitt es eine vorübergehende Unterbrechung. In unsern Lebensge-
wohnheiten ward dadurch nichts geändert, nur daß ich jetzt als der Älteste im
Hause eine etwas andre Stellung insofern einnahm, als ich mehr als früher
um den Vater sein und unter seiner Aufsicht meine Arbeiten machen mußte.
Kurz, ich nahm die Stelle des Bruders ein. Ging der Vater über Land oder


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0184" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/288637"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341845_288451/figures/grenzboten_341845_288451_288637_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Jugenderinnerungen.<lb/><note type="byline"> von Lrnst Willkomm.</note> (Fortsetzung.)</head><lb/>
          <p xml:id="ID_526"> as Haus, in dem wir Unterkunft fanden, lag in einer Seiten¬<lb/>
gasse und schien besonders stark von herumziehenden Juden be¬<lb/>
sucht zu werden. Einige derselben, unter ihnen ein würdig aus¬<lb/>
sehender alter Mann mit fast schneeweißem Barte, teilten sogar<lb/>
mit uns das Schlafgemach. Dieser ernste, stille, alte Mann<lb/>
ward mir merkwürdig durch die Andacht, mit welcher er am nächsten Morgen im<lb/>
gemeinsamen Gastzimmer sein Gebet verrichtete. Zum erstenmale im Leben<lb/>
sah ich einen orthodoxen Juden, den Gebetriemen um Kopf und Arm ge¬<lb/>
schlungen, seiner andersgläubigen Umgebung nicht die geringste Beachtung<lb/>
schenkend, in solcher Weise tief demütig zu Jehovah flehen. Der Bater hatte<lb/>
wohl Recht, uns Brüdern den inbrünstig betenden Juden als ein Muster aufzu¬<lb/>
stellen mit den Worten: Ein so fester Glaube kann Berge versetzen und ist<lb/>
Gott jedenfalls angenehm.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_527"> Was hielt uns Christen denn ab, in unsrer Weise uns ebenfalls an Gott<lb/>
zu wenden, ohne der Spötter zu achten? Mir erschien der alte Jude frömmer<lb/>
und besser als wir, obwohl er auch zu den Nachkommen der fanatischen Thoren<lb/>
gehörte, die einst ihr &#x201E;Kreuzige ihn!" gerufen hatten. Ich hütete mich aber<lb/>
wohl, meine kindisch ketzerischen Gedanken laut werden zu lassen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_528" next="#ID_529"> Nach der Rückkehr von der Badereise begann daheim wieder das alte ge¬<lb/>
regelte Leben. Nur durch den Abgang meines ältern Bruders auf das Gymnasium<lb/>
in Zitten erlitt es eine vorübergehende Unterbrechung. In unsern Lebensge-<lb/>
wohnheiten ward dadurch nichts geändert, nur daß ich jetzt als der Älteste im<lb/>
Hause eine etwas andre Stellung insofern einnahm, als ich mehr als früher<lb/>
um den Vater sein und unter seiner Aufsicht meine Arbeiten machen mußte.<lb/>
Kurz, ich nahm die Stelle des Bruders ein. Ging der Vater über Land oder</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0184] [Abbildung] Jugenderinnerungen. von Lrnst Willkomm. (Fortsetzung.) as Haus, in dem wir Unterkunft fanden, lag in einer Seiten¬ gasse und schien besonders stark von herumziehenden Juden be¬ sucht zu werden. Einige derselben, unter ihnen ein würdig aus¬ sehender alter Mann mit fast schneeweißem Barte, teilten sogar mit uns das Schlafgemach. Dieser ernste, stille, alte Mann ward mir merkwürdig durch die Andacht, mit welcher er am nächsten Morgen im gemeinsamen Gastzimmer sein Gebet verrichtete. Zum erstenmale im Leben sah ich einen orthodoxen Juden, den Gebetriemen um Kopf und Arm ge¬ schlungen, seiner andersgläubigen Umgebung nicht die geringste Beachtung schenkend, in solcher Weise tief demütig zu Jehovah flehen. Der Bater hatte wohl Recht, uns Brüdern den inbrünstig betenden Juden als ein Muster aufzu¬ stellen mit den Worten: Ein so fester Glaube kann Berge versetzen und ist Gott jedenfalls angenehm. Was hielt uns Christen denn ab, in unsrer Weise uns ebenfalls an Gott zu wenden, ohne der Spötter zu achten? Mir erschien der alte Jude frömmer und besser als wir, obwohl er auch zu den Nachkommen der fanatischen Thoren gehörte, die einst ihr „Kreuzige ihn!" gerufen hatten. Ich hütete mich aber wohl, meine kindisch ketzerischen Gedanken laut werden zu lassen. Nach der Rückkehr von der Badereise begann daheim wieder das alte ge¬ regelte Leben. Nur durch den Abgang meines ältern Bruders auf das Gymnasium in Zitten erlitt es eine vorübergehende Unterbrechung. In unsern Lebensge- wohnheiten ward dadurch nichts geändert, nur daß ich jetzt als der Älteste im Hause eine etwas andre Stellung insofern einnahm, als ich mehr als früher um den Vater sein und unter seiner Aufsicht meine Arbeiten machen mußte. Kurz, ich nahm die Stelle des Bruders ein. Ging der Vater über Land oder

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/184
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/184>, abgerufen am 17.09.2024.