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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Somitagsphilosophen.

nun gründlich und auch, was an ihr recht und gut ist, das gesunde Gleich¬
gewicht zwischen Einheit und Mannichfaltigkeit herzustellen, wozu wäre sonst
unser eifriges Geschichtsstudium da? Unsre Nachbarn können darauf bauen, daß
wir nun zwischen der Vereinzelung und dem Zusammenleben die rechte Durch-
schnittslinie finden lernen. Zu dem letzteren haben sie uns selbst geholfen.
Die letzten feindlichen Hammerschläge haben, wie frühere schon, unser Gefüge
nicht vollends auseinander getrieben, wie sie sollten, sondern fester zusammen¬
getrieben, sie haben uns vollends zusammen gehämmert. Und neue fremde
Schläge gegen uns würden dasselbe wirken. Wir beginnen ein neues Leben,
im Ganzen wie im Einzelnen, ein Leben, das seit vielen Menschenaltern unsre
besten Geister mit Schmerzen und Opfern vorbereitet und zugerüstet haben.


3. Vom großen, größten Leben.

Großes Leben, ich meine es in dem Sinne, wie Goethe in den oben an¬
geführten Versen den Ausdruck braucht, "die zum großen Leben gefugten Ele¬
mente," zu dem sie eben durch ihr Zusammen, ihre organische Einigung zu
einem Ganzen erst kommen. Alles Lebendige hat einen Drang und Trieb zum
Wachsen, strebt, vom Kleinen ausgehend, ins Große. Wenn der Mensch seinen
Gliedern nach damit fertig ist und sein sichtbares Wachsen aufhört, setzt es sich
fort als inneres Wachsen, das doch auch uach außen greift, unsichtbar, aber
doch wirksam in fortwährend wachsendem Kreise und damit zugleich in die eigne
Tiefe. Wie schon das Kind anch geistig in die Familie hineinwächst und im
Kleinen mitwirkend ihren Lebenskreis bilden hilft, so dann der Jüngling in seine"
Freundeskreis, der ihm für sein Leben die eigne Gemeinde wird. Der Mann
wächst ebenso in die wirkliche Gemeinde hinein und hilft sie darstellen mit ihrem
Leben und Wirken, und so wachsen seine Kreise und er in ihnen, und wie vielfach
sie sich auch durchschneiden, auch mit Kampf und Reibung, sie werden alle
eingehegt vom Kreis des Stammes, der Provinz, und diese alle vom Staate,
vom großen Vaterlande, im Ganzen ein wunderbar verflochtenes Gefüge, das
niemand rein übersehen lernt, auch nicht der an der Spitze stehende Staatsmann
oder Fürst, dessen Leben aber als mannichfaltig in einander gefügtes Zusammen¬
leben sich fortwährend fühlbar macht für die Einzelnen wie für die Kreise, aus
denen es sich zusammensetzt, alles auf dem Wege des Wachsens, den Zielen zu,
die dem Leben als Bewegung gedacht zu Grunde liegen. So ist jedem Einzelnen
der Eintritt, nicht bloß der Einblick in ein großes Leben aufgethan, aus dem
er selber seine höhere oder innere Lebensnahrung zieht, ohne das sein eignes
Leben ein kleines, enges, geringes bleiben würde, dem Wachsen entrückt, das
heißt eigentlich hinaufgesetzt aus seinem Ganzen.

Denn das Wesentliche und Wunderbare bleibt auch hier, daß die einzelnen
Leben sich an einander steigern, wie oben im Spiel, so anch im Ernst des
Lebens. Wie zwischen zweien schon, in rechter Freundschaft und Ehe, durch ihr


Tagebuchblätter eines Somitagsphilosophen.

nun gründlich und auch, was an ihr recht und gut ist, das gesunde Gleich¬
gewicht zwischen Einheit und Mannichfaltigkeit herzustellen, wozu wäre sonst
unser eifriges Geschichtsstudium da? Unsre Nachbarn können darauf bauen, daß
wir nun zwischen der Vereinzelung und dem Zusammenleben die rechte Durch-
schnittslinie finden lernen. Zu dem letzteren haben sie uns selbst geholfen.
Die letzten feindlichen Hammerschläge haben, wie frühere schon, unser Gefüge
nicht vollends auseinander getrieben, wie sie sollten, sondern fester zusammen¬
getrieben, sie haben uns vollends zusammen gehämmert. Und neue fremde
Schläge gegen uns würden dasselbe wirken. Wir beginnen ein neues Leben,
im Ganzen wie im Einzelnen, ein Leben, das seit vielen Menschenaltern unsre
besten Geister mit Schmerzen und Opfern vorbereitet und zugerüstet haben.


3. Vom großen, größten Leben.

Großes Leben, ich meine es in dem Sinne, wie Goethe in den oben an¬
geführten Versen den Ausdruck braucht, „die zum großen Leben gefugten Ele¬
mente," zu dem sie eben durch ihr Zusammen, ihre organische Einigung zu
einem Ganzen erst kommen. Alles Lebendige hat einen Drang und Trieb zum
Wachsen, strebt, vom Kleinen ausgehend, ins Große. Wenn der Mensch seinen
Gliedern nach damit fertig ist und sein sichtbares Wachsen aufhört, setzt es sich
fort als inneres Wachsen, das doch auch uach außen greift, unsichtbar, aber
doch wirksam in fortwährend wachsendem Kreise und damit zugleich in die eigne
Tiefe. Wie schon das Kind anch geistig in die Familie hineinwächst und im
Kleinen mitwirkend ihren Lebenskreis bilden hilft, so dann der Jüngling in seine«
Freundeskreis, der ihm für sein Leben die eigne Gemeinde wird. Der Mann
wächst ebenso in die wirkliche Gemeinde hinein und hilft sie darstellen mit ihrem
Leben und Wirken, und so wachsen seine Kreise und er in ihnen, und wie vielfach
sie sich auch durchschneiden, auch mit Kampf und Reibung, sie werden alle
eingehegt vom Kreis des Stammes, der Provinz, und diese alle vom Staate,
vom großen Vaterlande, im Ganzen ein wunderbar verflochtenes Gefüge, das
niemand rein übersehen lernt, auch nicht der an der Spitze stehende Staatsmann
oder Fürst, dessen Leben aber als mannichfaltig in einander gefügtes Zusammen¬
leben sich fortwährend fühlbar macht für die Einzelnen wie für die Kreise, aus
denen es sich zusammensetzt, alles auf dem Wege des Wachsens, den Zielen zu,
die dem Leben als Bewegung gedacht zu Grunde liegen. So ist jedem Einzelnen
der Eintritt, nicht bloß der Einblick in ein großes Leben aufgethan, aus dem
er selber seine höhere oder innere Lebensnahrung zieht, ohne das sein eignes
Leben ein kleines, enges, geringes bleiben würde, dem Wachsen entrückt, das
heißt eigentlich hinaufgesetzt aus seinem Ganzen.

Denn das Wesentliche und Wunderbare bleibt auch hier, daß die einzelnen
Leben sich an einander steigern, wie oben im Spiel, so anch im Ernst des
Lebens. Wie zwischen zweien schon, in rechter Freundschaft und Ehe, durch ihr


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[0334] Tagebuchblätter eines Somitagsphilosophen. nun gründlich und auch, was an ihr recht und gut ist, das gesunde Gleich¬ gewicht zwischen Einheit und Mannichfaltigkeit herzustellen, wozu wäre sonst unser eifriges Geschichtsstudium da? Unsre Nachbarn können darauf bauen, daß wir nun zwischen der Vereinzelung und dem Zusammenleben die rechte Durch- schnittslinie finden lernen. Zu dem letzteren haben sie uns selbst geholfen. Die letzten feindlichen Hammerschläge haben, wie frühere schon, unser Gefüge nicht vollends auseinander getrieben, wie sie sollten, sondern fester zusammen¬ getrieben, sie haben uns vollends zusammen gehämmert. Und neue fremde Schläge gegen uns würden dasselbe wirken. Wir beginnen ein neues Leben, im Ganzen wie im Einzelnen, ein Leben, das seit vielen Menschenaltern unsre besten Geister mit Schmerzen und Opfern vorbereitet und zugerüstet haben. 3. Vom großen, größten Leben. Großes Leben, ich meine es in dem Sinne, wie Goethe in den oben an¬ geführten Versen den Ausdruck braucht, „die zum großen Leben gefugten Ele¬ mente," zu dem sie eben durch ihr Zusammen, ihre organische Einigung zu einem Ganzen erst kommen. Alles Lebendige hat einen Drang und Trieb zum Wachsen, strebt, vom Kleinen ausgehend, ins Große. Wenn der Mensch seinen Gliedern nach damit fertig ist und sein sichtbares Wachsen aufhört, setzt es sich fort als inneres Wachsen, das doch auch uach außen greift, unsichtbar, aber doch wirksam in fortwährend wachsendem Kreise und damit zugleich in die eigne Tiefe. Wie schon das Kind anch geistig in die Familie hineinwächst und im Kleinen mitwirkend ihren Lebenskreis bilden hilft, so dann der Jüngling in seine« Freundeskreis, der ihm für sein Leben die eigne Gemeinde wird. Der Mann wächst ebenso in die wirkliche Gemeinde hinein und hilft sie darstellen mit ihrem Leben und Wirken, und so wachsen seine Kreise und er in ihnen, und wie vielfach sie sich auch durchschneiden, auch mit Kampf und Reibung, sie werden alle eingehegt vom Kreis des Stammes, der Provinz, und diese alle vom Staate, vom großen Vaterlande, im Ganzen ein wunderbar verflochtenes Gefüge, das niemand rein übersehen lernt, auch nicht der an der Spitze stehende Staatsmann oder Fürst, dessen Leben aber als mannichfaltig in einander gefügtes Zusammen¬ leben sich fortwährend fühlbar macht für die Einzelnen wie für die Kreise, aus denen es sich zusammensetzt, alles auf dem Wege des Wachsens, den Zielen zu, die dem Leben als Bewegung gedacht zu Grunde liegen. So ist jedem Einzelnen der Eintritt, nicht bloß der Einblick in ein großes Leben aufgethan, aus dem er selber seine höhere oder innere Lebensnahrung zieht, ohne das sein eignes Leben ein kleines, enges, geringes bleiben würde, dem Wachsen entrückt, das heißt eigentlich hinaufgesetzt aus seinem Ganzen. Denn das Wesentliche und Wunderbare bleibt auch hier, daß die einzelnen Leben sich an einander steigern, wie oben im Spiel, so anch im Ernst des Lebens. Wie zwischen zweien schon, in rechter Freundschaft und Ehe, durch ihr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/334>, abgerufen am 27.06.2024.