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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Neue Dramen.

Lebendigen keine Freude haben und es darum möglichst klein machen. Wir
müssen es dahin bringen, daß der schmerzliche Ausruf des jungen Goethe:
"Armer Mensch, an dem der Kopf alles ist!" veralte und nur mit gelehrtem
Commentar verständlich werde. (Schluß folgt.)




Neue Dramen.

er Schwierigkeit, über neue Bühnendichtungen vom Lesetisch aus
zu urteilen, ist man sich gegenwärtig so lebhaft bewußt, daß
man dieser Aufgabe möglichst aus dem Wege geht. Man weist
auf die zahlreichen Enttäuschungen hin, die man mit den Theater¬
stücken erlebt hat: Dramen, die beim Lesen gefallen haben, fielen
auf der Bühne durch, andre wieder, die man im "Textbuch" -- hier ist dieser
technische Ausdruck sehr nötig -- kaum zu Ende lesen konnte, erlebten eine
Unzahl von Aufführungen. Anstatt aus diesen Erfahrungen den Schluß zu
ziehe", daß man dort eben nicht mit Zuschaneraugen gelesen und hier die Mit¬
wirkung außer dem Textbuche stehender Umstände, etwa der zufällig mit¬
wirkenden Virtuosität eines Schauspielers, übersehen hat, zieht man lieber gleich
die bequeme Folgerung, daß ein Urteil über Dramen vom Lesen aus überhaupt
nicht maßgebend für ihren dramatischen Wert sein könne. Zumal auf Äußerungen
Heinrich Laubes liebt man in dieser Frage sich zu beziehen. Und dann weist
man noch auf die unglücklichste Sorte aller Dichtungswerke hin: auf das Buch¬
drama, welches zum Gedeihen des deutschen Theaters so wenig beigetragen hat.
Es wurde von der Masse der Leser gemieden, weil es dieser schwer fällt, mit
der eignen Phantasie die Andeutungen von Szene und Bewegung zu ergänzen,
auf die der Dichter durch die dramatische Form seines Werkes im Texte not¬
wendig beschränkt bleibt; und ausführbar waren die Buchdramen schon deswegen
nicht, weil die Verfasser die Gesetze und Forderungen der Vühneneinrichtung
wiederum zu wenig oder auch gar nicht berücksichtigt hatten. Und doch ertönt
von allen Seiten die Klage, daß wir kein nationales Theater hätten, und doch
ist keine Dichtungsart heutzutage so umworben, als gerade die dramatische!
Vom Roman, von der Novelle erwartet man keine höhere Blüte mehr, man
'se zufrieden mit dem, was die Meister derselben erreicht haben; ein literarisches
Bedürfnis geht in Wahrheit nur von der Bühne aus. Warum aber überläßt
die Kritik die neue Dramenproduktion ihrem Schicksal, der Laune oder der zu¬
fälligen Kenntnisnahme durch die Theaterdirektoren? Warum verschanzt sie


Neue Dramen.

Lebendigen keine Freude haben und es darum möglichst klein machen. Wir
müssen es dahin bringen, daß der schmerzliche Ausruf des jungen Goethe:
„Armer Mensch, an dem der Kopf alles ist!" veralte und nur mit gelehrtem
Commentar verständlich werde. (Schluß folgt.)




Neue Dramen.

er Schwierigkeit, über neue Bühnendichtungen vom Lesetisch aus
zu urteilen, ist man sich gegenwärtig so lebhaft bewußt, daß
man dieser Aufgabe möglichst aus dem Wege geht. Man weist
auf die zahlreichen Enttäuschungen hin, die man mit den Theater¬
stücken erlebt hat: Dramen, die beim Lesen gefallen haben, fielen
auf der Bühne durch, andre wieder, die man im „Textbuch" — hier ist dieser
technische Ausdruck sehr nötig — kaum zu Ende lesen konnte, erlebten eine
Unzahl von Aufführungen. Anstatt aus diesen Erfahrungen den Schluß zu
ziehe», daß man dort eben nicht mit Zuschaneraugen gelesen und hier die Mit¬
wirkung außer dem Textbuche stehender Umstände, etwa der zufällig mit¬
wirkenden Virtuosität eines Schauspielers, übersehen hat, zieht man lieber gleich
die bequeme Folgerung, daß ein Urteil über Dramen vom Lesen aus überhaupt
nicht maßgebend für ihren dramatischen Wert sein könne. Zumal auf Äußerungen
Heinrich Laubes liebt man in dieser Frage sich zu beziehen. Und dann weist
man noch auf die unglücklichste Sorte aller Dichtungswerke hin: auf das Buch¬
drama, welches zum Gedeihen des deutschen Theaters so wenig beigetragen hat.
Es wurde von der Masse der Leser gemieden, weil es dieser schwer fällt, mit
der eignen Phantasie die Andeutungen von Szene und Bewegung zu ergänzen,
auf die der Dichter durch die dramatische Form seines Werkes im Texte not¬
wendig beschränkt bleibt; und ausführbar waren die Buchdramen schon deswegen
nicht, weil die Verfasser die Gesetze und Forderungen der Vühneneinrichtung
wiederum zu wenig oder auch gar nicht berücksichtigt hatten. Und doch ertönt
von allen Seiten die Klage, daß wir kein nationales Theater hätten, und doch
ist keine Dichtungsart heutzutage so umworben, als gerade die dramatische!
Vom Roman, von der Novelle erwartet man keine höhere Blüte mehr, man
'se zufrieden mit dem, was die Meister derselben erreicht haben; ein literarisches
Bedürfnis geht in Wahrheit nur von der Bühne aus. Warum aber überläßt
die Kritik die neue Dramenproduktion ihrem Schicksal, der Laune oder der zu¬
fälligen Kenntnisnahme durch die Theaterdirektoren? Warum verschanzt sie


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[0275] Neue Dramen. Lebendigen keine Freude haben und es darum möglichst klein machen. Wir müssen es dahin bringen, daß der schmerzliche Ausruf des jungen Goethe: „Armer Mensch, an dem der Kopf alles ist!" veralte und nur mit gelehrtem Commentar verständlich werde. (Schluß folgt.) Neue Dramen. er Schwierigkeit, über neue Bühnendichtungen vom Lesetisch aus zu urteilen, ist man sich gegenwärtig so lebhaft bewußt, daß man dieser Aufgabe möglichst aus dem Wege geht. Man weist auf die zahlreichen Enttäuschungen hin, die man mit den Theater¬ stücken erlebt hat: Dramen, die beim Lesen gefallen haben, fielen auf der Bühne durch, andre wieder, die man im „Textbuch" — hier ist dieser technische Ausdruck sehr nötig — kaum zu Ende lesen konnte, erlebten eine Unzahl von Aufführungen. Anstatt aus diesen Erfahrungen den Schluß zu ziehe», daß man dort eben nicht mit Zuschaneraugen gelesen und hier die Mit¬ wirkung außer dem Textbuche stehender Umstände, etwa der zufällig mit¬ wirkenden Virtuosität eines Schauspielers, übersehen hat, zieht man lieber gleich die bequeme Folgerung, daß ein Urteil über Dramen vom Lesen aus überhaupt nicht maßgebend für ihren dramatischen Wert sein könne. Zumal auf Äußerungen Heinrich Laubes liebt man in dieser Frage sich zu beziehen. Und dann weist man noch auf die unglücklichste Sorte aller Dichtungswerke hin: auf das Buch¬ drama, welches zum Gedeihen des deutschen Theaters so wenig beigetragen hat. Es wurde von der Masse der Leser gemieden, weil es dieser schwer fällt, mit der eignen Phantasie die Andeutungen von Szene und Bewegung zu ergänzen, auf die der Dichter durch die dramatische Form seines Werkes im Texte not¬ wendig beschränkt bleibt; und ausführbar waren die Buchdramen schon deswegen nicht, weil die Verfasser die Gesetze und Forderungen der Vühneneinrichtung wiederum zu wenig oder auch gar nicht berücksichtigt hatten. Und doch ertönt von allen Seiten die Klage, daß wir kein nationales Theater hätten, und doch ist keine Dichtungsart heutzutage so umworben, als gerade die dramatische! Vom Roman, von der Novelle erwartet man keine höhere Blüte mehr, man 'se zufrieden mit dem, was die Meister derselben erreicht haben; ein literarisches Bedürfnis geht in Wahrheit nur von der Bühne aus. Warum aber überläßt die Kritik die neue Dramenproduktion ihrem Schicksal, der Laune oder der zu¬ fälligen Kenntnisnahme durch die Theaterdirektoren? Warum verschanzt sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/275>, abgerufen am 22.07.2024.