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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Neue Dramen.

sich hinter dein bequemen Scitze, daß Biihnenwerke eben nur von der Wirkung
auf der Bühne beurteilt werden könnten, und vermeidet es, sie auch unausgeführt
zu würdigen? Als ob sie nicht auch vor der Annahme zur Darstellung, um
eben jene Bühnenwirkung zu erproben, kritisch gelesen, als ob der zuweilen
kostspielige Versuch ihrer Aufführung uicht von denselben Beweggründen aus
gemacht werden müßte, die dem literarischen Leser den Wunsch einflößen, das
Stück dargestellt zu scheu! Manches Gute könnte die Kritik stiften, wenn sie
aus ihrer bequemen Einwickluug hervorträte, denn nicht immer ist die Wahl,
welche Theaterdircktoren unter den neuen Erscheinungen der dramatischen Lite¬
ratur treffen, rein sachlich, von keinen andern als künsterischen Beweggründen
geleitet. Es ist zur Genüge bekannt, wie zahlreicher persönlicher Beziehungen
es bedarf, um ein Stück bei einer Thenterdirektivn durchzusetzen, wie die Gunst
einflußreicher Schauspieler umworben und das schnell gesponnene Netz von
Theaterintriguen zerrissen werden muß, die niemals verfehlen, sich den Be¬
strebungen eines ernsten Dichters in den Weg zu stellen. Am besten freilich
für den Bühnendichter ist es heutzutage, wenn er zugleich der einflußreiche
Kritiker eines vielgelesenen Residenzblattcs ist. Dann wird er jedenfalls berück¬
sichtigt. Fällt auch sein Stück übel aus, weiß der Direktor überhaupt von
vornherein, daß damit wenig zu gewinnen ist -- thut nichts! Es wird stets
aufgeführt! Denn der Lohn bleibt nicht ans: der Kritiker ist dem betreffenden
Theater verpflichtet, seine Zeitung behält in allen Fällen eine wohlwollende
Haltung, die journalistischen Kollegen der andern Blätter, die in der gleichen
Lage sind, werden der andern Krähe auch kein Auge aushacken, und so wird
mit viel Schund und wenig Witz sehr viel Geld verdient. So wenigstens geht's
in Wien zu. Es soll aber anderwärts anch nicht besser sein.

Doch zur Sache. Vor uns liegen drei dramatische Werke namhafter
Dichter, Dramen von Hans Herrig, von Hermann Lingg und von Martin
Greif: jedenfalls ernst zu nehmende literarische Erscheinungen, deren Charakter
und Wert wir daher im folgenden zu zeichne" versuchen werden.

Richard Wagner zieht in seiner Schrift "Oper und Drama" (Gesammelte
Schriften und Dichtungen III. 343) bei Besprechung der Bemühungen Beet¬
hovens, der Instrumentalmusik einen bestimmten, individuellen Inhalt zu ver-
schaffen, einen Vergleich zwischen dem großen Tondichter und einer andern welt¬
geschichtlichen Persönlichkeit: Christoph Columbus. Er sagt: "Die Geschichte
der Instrumentalmusik ist von da an, wo jenes Verlangen sich in ihr kundgab,
die Geschichte eines künstlerisches Irrtumes, der aber nicht, wie der des Opern-
genrcs, mit Darlegung einer Unfähigkeit der Musik, sondern mit der Kundgebung
eines unbegrenzten innern Vermögens derselben endete. Der Irrtum Beethovens
war der des Columbus, der mir einen neuen Weg nach dem alten, bereits
bekannten Indien aufsuchen wollte, dafür aber eine neue Welt selbst entdeckte;
anch Columbus nahm seinen Irrtum mit sich ins Grab: er ließ seine Genossen


Neue Dramen.

sich hinter dein bequemen Scitze, daß Biihnenwerke eben nur von der Wirkung
auf der Bühne beurteilt werden könnten, und vermeidet es, sie auch unausgeführt
zu würdigen? Als ob sie nicht auch vor der Annahme zur Darstellung, um
eben jene Bühnenwirkung zu erproben, kritisch gelesen, als ob der zuweilen
kostspielige Versuch ihrer Aufführung uicht von denselben Beweggründen aus
gemacht werden müßte, die dem literarischen Leser den Wunsch einflößen, das
Stück dargestellt zu scheu! Manches Gute könnte die Kritik stiften, wenn sie
aus ihrer bequemen Einwickluug hervorträte, denn nicht immer ist die Wahl,
welche Theaterdircktoren unter den neuen Erscheinungen der dramatischen Lite¬
ratur treffen, rein sachlich, von keinen andern als künsterischen Beweggründen
geleitet. Es ist zur Genüge bekannt, wie zahlreicher persönlicher Beziehungen
es bedarf, um ein Stück bei einer Thenterdirektivn durchzusetzen, wie die Gunst
einflußreicher Schauspieler umworben und das schnell gesponnene Netz von
Theaterintriguen zerrissen werden muß, die niemals verfehlen, sich den Be¬
strebungen eines ernsten Dichters in den Weg zu stellen. Am besten freilich
für den Bühnendichter ist es heutzutage, wenn er zugleich der einflußreiche
Kritiker eines vielgelesenen Residenzblattcs ist. Dann wird er jedenfalls berück¬
sichtigt. Fällt auch sein Stück übel aus, weiß der Direktor überhaupt von
vornherein, daß damit wenig zu gewinnen ist — thut nichts! Es wird stets
aufgeführt! Denn der Lohn bleibt nicht ans: der Kritiker ist dem betreffenden
Theater verpflichtet, seine Zeitung behält in allen Fällen eine wohlwollende
Haltung, die journalistischen Kollegen der andern Blätter, die in der gleichen
Lage sind, werden der andern Krähe auch kein Auge aushacken, und so wird
mit viel Schund und wenig Witz sehr viel Geld verdient. So wenigstens geht's
in Wien zu. Es soll aber anderwärts anch nicht besser sein.

Doch zur Sache. Vor uns liegen drei dramatische Werke namhafter
Dichter, Dramen von Hans Herrig, von Hermann Lingg und von Martin
Greif: jedenfalls ernst zu nehmende literarische Erscheinungen, deren Charakter
und Wert wir daher im folgenden zu zeichne» versuchen werden.

Richard Wagner zieht in seiner Schrift „Oper und Drama" (Gesammelte
Schriften und Dichtungen III. 343) bei Besprechung der Bemühungen Beet¬
hovens, der Instrumentalmusik einen bestimmten, individuellen Inhalt zu ver-
schaffen, einen Vergleich zwischen dem großen Tondichter und einer andern welt¬
geschichtlichen Persönlichkeit: Christoph Columbus. Er sagt: „Die Geschichte
der Instrumentalmusik ist von da an, wo jenes Verlangen sich in ihr kundgab,
die Geschichte eines künstlerisches Irrtumes, der aber nicht, wie der des Opern-
genrcs, mit Darlegung einer Unfähigkeit der Musik, sondern mit der Kundgebung
eines unbegrenzten innern Vermögens derselben endete. Der Irrtum Beethovens
war der des Columbus, der mir einen neuen Weg nach dem alten, bereits
bekannten Indien aufsuchen wollte, dafür aber eine neue Welt selbst entdeckte;
anch Columbus nahm seinen Irrtum mit sich ins Grab: er ließ seine Genossen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/276>, abgerufen am 22.07.2024.