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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Marokko.

le marokkanische Frage, die sich in diesen Tagen erhoben hat,
scheint auf den ersten Blick keine Frage zu sein, welche die
Deutschen besonders berühren könnte, und vor der Ära, die mit
der Ernennung Bismarcks zum preußischen Ministerpräsidenten
begann und sich in den Kriegen von 1864 bis 1871, sowie in
den ihnen folgenden großen Friedensbündnissen entfaltete, wäre sie in der That
für uns eine ziemlich müßige Frage gewesen. Jetzt steht es damit anders; denn
mit jenen Ereignissen ist das "Volk der Dichter und Denker" ein politisches
und Deutschland eine Weltmacht geworden, die auch von scheinbar entlegenen
Fragen berührt wird und auf deren Lösung einzuwirken berufen ist. Die gedachte
Frage ist nur örtlich entlegen, in Wahrheit kann sie unter Umständen uns ein¬
mal sehr nahe angehen, d. h. zu einem Gliede der französischen Frage werden.
Zunächst lautet sie nur: Soll, wenn der kranke Sultan Muley Hassan stirbt,
dessen Reich das Schicksal von Algier und Tunis erfahren und das Mittelmeer
ein französischer See werden? Für andre Mächte ist das letztere nicht gleichgiltig,
nicht für Italien, nicht für Spanien, auch nicht für England; aber vielleicht für
das deutsche Reich? Sehen wir zu, was die Thatsachen darauf antworten.

Vor einigen Wochen traf die Nachricht ein, daß Muley Hassan, "der Be¬
herrscher der Gläubigen, der Statthalter des Himmels in Mogrib El Aksa, in die
Gnade Allahs eingegangen sei," d. h. das Zeitliche gesegnet habe. Nach einer
neueren Mitteilung Hütte er sich erholt, aber die Sache ist ungewiß, und über kurz
oder lang muß die Katastrophe, wenn ein Aufschub wirklich stattgefunden hat,
doch eintreten, und dann wird es zunächst im Innern des Landes zu ähnlichen
Wirren und Unruhen kommen, wie sie 1873 bei dem plötzlichen Ableben des


Grenzboten IV. 1837. 20


Marokko.

le marokkanische Frage, die sich in diesen Tagen erhoben hat,
scheint auf den ersten Blick keine Frage zu sein, welche die
Deutschen besonders berühren könnte, und vor der Ära, die mit
der Ernennung Bismarcks zum preußischen Ministerpräsidenten
begann und sich in den Kriegen von 1864 bis 1871, sowie in
den ihnen folgenden großen Friedensbündnissen entfaltete, wäre sie in der That
für uns eine ziemlich müßige Frage gewesen. Jetzt steht es damit anders; denn
mit jenen Ereignissen ist das „Volk der Dichter und Denker" ein politisches
und Deutschland eine Weltmacht geworden, die auch von scheinbar entlegenen
Fragen berührt wird und auf deren Lösung einzuwirken berufen ist. Die gedachte
Frage ist nur örtlich entlegen, in Wahrheit kann sie unter Umständen uns ein¬
mal sehr nahe angehen, d. h. zu einem Gliede der französischen Frage werden.
Zunächst lautet sie nur: Soll, wenn der kranke Sultan Muley Hassan stirbt,
dessen Reich das Schicksal von Algier und Tunis erfahren und das Mittelmeer
ein französischer See werden? Für andre Mächte ist das letztere nicht gleichgiltig,
nicht für Italien, nicht für Spanien, auch nicht für England; aber vielleicht für
das deutsche Reich? Sehen wir zu, was die Thatsachen darauf antworten.

Vor einigen Wochen traf die Nachricht ein, daß Muley Hassan, „der Be¬
herrscher der Gläubigen, der Statthalter des Himmels in Mogrib El Aksa, in die
Gnade Allahs eingegangen sei," d. h. das Zeitliche gesegnet habe. Nach einer
neueren Mitteilung Hütte er sich erholt, aber die Sache ist ungewiß, und über kurz
oder lang muß die Katastrophe, wenn ein Aufschub wirklich stattgefunden hat,
doch eintreten, und dann wird es zunächst im Innern des Landes zu ähnlichen
Wirren und Unruhen kommen, wie sie 1873 bei dem plötzlichen Ableben des


Grenzboten IV. 1837. 20
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[0161] [Abbildung] Marokko. le marokkanische Frage, die sich in diesen Tagen erhoben hat, scheint auf den ersten Blick keine Frage zu sein, welche die Deutschen besonders berühren könnte, und vor der Ära, die mit der Ernennung Bismarcks zum preußischen Ministerpräsidenten begann und sich in den Kriegen von 1864 bis 1871, sowie in den ihnen folgenden großen Friedensbündnissen entfaltete, wäre sie in der That für uns eine ziemlich müßige Frage gewesen. Jetzt steht es damit anders; denn mit jenen Ereignissen ist das „Volk der Dichter und Denker" ein politisches und Deutschland eine Weltmacht geworden, die auch von scheinbar entlegenen Fragen berührt wird und auf deren Lösung einzuwirken berufen ist. Die gedachte Frage ist nur örtlich entlegen, in Wahrheit kann sie unter Umständen uns ein¬ mal sehr nahe angehen, d. h. zu einem Gliede der französischen Frage werden. Zunächst lautet sie nur: Soll, wenn der kranke Sultan Muley Hassan stirbt, dessen Reich das Schicksal von Algier und Tunis erfahren und das Mittelmeer ein französischer See werden? Für andre Mächte ist das letztere nicht gleichgiltig, nicht für Italien, nicht für Spanien, auch nicht für England; aber vielleicht für das deutsche Reich? Sehen wir zu, was die Thatsachen darauf antworten. Vor einigen Wochen traf die Nachricht ein, daß Muley Hassan, „der Be¬ herrscher der Gläubigen, der Statthalter des Himmels in Mogrib El Aksa, in die Gnade Allahs eingegangen sei," d. h. das Zeitliche gesegnet habe. Nach einer neueren Mitteilung Hütte er sich erholt, aber die Sache ist ungewiß, und über kurz oder lang muß die Katastrophe, wenn ein Aufschub wirklich stattgefunden hat, doch eintreten, und dann wird es zunächst im Innern des Landes zu ähnlichen Wirren und Unruhen kommen, wie sie 1873 bei dem plötzlichen Ableben des Grenzboten IV. 1837. 20

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/161>, abgerufen am 03.07.2024.