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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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lNarotto.

Sultans Sidi Mohammed, des Vaters Muley Hassens, ausbrachen und das
Land mit Blut überschwemmten. Das Gesetz des Islam, welches dem ältesten
Mitgliede der herrschenden Dynastie, das aber nicht notwendig der älteste Sohn
des Sultans zu sein braucht, die Thronfolge zuspricht, pflegt an muslimischen
Höfen Streitigkeiten hervorzurufen, die, wenn sie nicht durch rasche Ermordung
des einen der betreffenden Nebenbuhler für den andern entschieden werden, sich in
Bürgerkriege verwandeln, die in Marokko umso größere Ausdehnung annehmen und
umso länger dauern, als das Reich in eine Anzahl Provinzen zerfällt, deren Kaids
oder Statthalter von der Zentralstelle fast unabhängig sind und sehr verschiedne
Interessen haben, die sie dann in Anlehnung an eine der Parteien verfolgen,
und die bei der Macht jener Satrapen den Staat mit Zerfall bedrohen. Ein
solcher Thronstreit ist auch jetzt zu befürchten, indem neben dem zum Nachfolger
Muley Hassens bestimmten Sohne desselben, dem Prinzen Muley Mohammed,
der Prinz Muley Abbas, ein Sohn des 1869 verstorbenen Sultans Abdurmch-
man, Anspruch auf die Nachfolge erhebt und eine starke Partei hinter sich hat.

Diese Gefahr wäre selbstverständlich Sache der Marokkaner und ginge
andre Völker und Staaten nur soweit an, als sie mit Marokko Handel treiben
und mit ihm Verträge abgeschlossen haben, indem jener gestört werden würde
und in Betreff dieser zu befürchten wäre, daß der Gegenkandidat des Kron¬
prinzen nach Verdrängung desselben und nach Einsetzung in die Gewalt fanatisch
und übermütig erklärte, er fühle sich nicht an die von seinem Vorgänger den
Kafirs eingeräumten Rechte gebunden. Neben dieser Gefahr liegt jedoch eine
andre, die größer als sie und für weitere Kreise von Bedeutung ist: die Be¬
gehrlichkeit, mit welcher vorzüglich zwei Mächte Europas, beide unmittelbare
Nachbarn Marokkos, schon längst auf das Land ihre Blicke gerichtet halten,
die bei einem Bürgerkriege die Gelegenheit, sich Stücke desselben anzueignen, für
gekommen erachten könnten, wozu es ihnen an Vorwünden gewiß nicht fehlen
würde. Diese Mächte sind Frankreich und Spanien. Frankreich verfolgt schon
seit Jahrzehnten den Plan, den Nordrand Afrikas, die Südküste des Mittel¬
meeres, in seine Gewalt zu bekommen. Es hat Algerien erobert, es hat sich
das Protektorat über Tunesien und damit thatsächlich den Besitz dieses Landes
verschafft, von welchem aus es das wenige Meilen entfernte Sizilien bedrohen
kann, es besaß bis vor kurzem großen Einfluß in Ägypten, aus dem sich bei
günstiger Gelegenheit mehr machen ließ, und den man zwar durch Englands
rechtzeitiges Zugreifen verloren hat, aber unablässig wieder zu gewinnen bemüht
gewesen ist. Frankreich hält die Augen auf Tripolis geheftet und nicht minder
auf Marokko, zunächst auf die Oase Figig, die weitausgedehnter fruchtbaren
Ebnen im Osten dieses maurischen Sultanats. Hier stößt die Grenze seiner
Kolonie Algerien an marokkanisches Gebiet; sie ist aber noch nie mit voll¬
kommener Genauigkeit bestimmt worden. Infolge dessen findet sich hier fort¬
während Gelegenheit zu Mißverständnissen, Übergriffen und Klagen ähnlich


lNarotto.

Sultans Sidi Mohammed, des Vaters Muley Hassens, ausbrachen und das
Land mit Blut überschwemmten. Das Gesetz des Islam, welches dem ältesten
Mitgliede der herrschenden Dynastie, das aber nicht notwendig der älteste Sohn
des Sultans zu sein braucht, die Thronfolge zuspricht, pflegt an muslimischen
Höfen Streitigkeiten hervorzurufen, die, wenn sie nicht durch rasche Ermordung
des einen der betreffenden Nebenbuhler für den andern entschieden werden, sich in
Bürgerkriege verwandeln, die in Marokko umso größere Ausdehnung annehmen und
umso länger dauern, als das Reich in eine Anzahl Provinzen zerfällt, deren Kaids
oder Statthalter von der Zentralstelle fast unabhängig sind und sehr verschiedne
Interessen haben, die sie dann in Anlehnung an eine der Parteien verfolgen,
und die bei der Macht jener Satrapen den Staat mit Zerfall bedrohen. Ein
solcher Thronstreit ist auch jetzt zu befürchten, indem neben dem zum Nachfolger
Muley Hassens bestimmten Sohne desselben, dem Prinzen Muley Mohammed,
der Prinz Muley Abbas, ein Sohn des 1869 verstorbenen Sultans Abdurmch-
man, Anspruch auf die Nachfolge erhebt und eine starke Partei hinter sich hat.

Diese Gefahr wäre selbstverständlich Sache der Marokkaner und ginge
andre Völker und Staaten nur soweit an, als sie mit Marokko Handel treiben
und mit ihm Verträge abgeschlossen haben, indem jener gestört werden würde
und in Betreff dieser zu befürchten wäre, daß der Gegenkandidat des Kron¬
prinzen nach Verdrängung desselben und nach Einsetzung in die Gewalt fanatisch
und übermütig erklärte, er fühle sich nicht an die von seinem Vorgänger den
Kafirs eingeräumten Rechte gebunden. Neben dieser Gefahr liegt jedoch eine
andre, die größer als sie und für weitere Kreise von Bedeutung ist: die Be¬
gehrlichkeit, mit welcher vorzüglich zwei Mächte Europas, beide unmittelbare
Nachbarn Marokkos, schon längst auf das Land ihre Blicke gerichtet halten,
die bei einem Bürgerkriege die Gelegenheit, sich Stücke desselben anzueignen, für
gekommen erachten könnten, wozu es ihnen an Vorwünden gewiß nicht fehlen
würde. Diese Mächte sind Frankreich und Spanien. Frankreich verfolgt schon
seit Jahrzehnten den Plan, den Nordrand Afrikas, die Südküste des Mittel¬
meeres, in seine Gewalt zu bekommen. Es hat Algerien erobert, es hat sich
das Protektorat über Tunesien und damit thatsächlich den Besitz dieses Landes
verschafft, von welchem aus es das wenige Meilen entfernte Sizilien bedrohen
kann, es besaß bis vor kurzem großen Einfluß in Ägypten, aus dem sich bei
günstiger Gelegenheit mehr machen ließ, und den man zwar durch Englands
rechtzeitiges Zugreifen verloren hat, aber unablässig wieder zu gewinnen bemüht
gewesen ist. Frankreich hält die Augen auf Tripolis geheftet und nicht minder
auf Marokko, zunächst auf die Oase Figig, die weitausgedehnter fruchtbaren
Ebnen im Osten dieses maurischen Sultanats. Hier stößt die Grenze seiner
Kolonie Algerien an marokkanisches Gebiet; sie ist aber noch nie mit voll¬
kommener Genauigkeit bestimmt worden. Infolge dessen findet sich hier fort¬
während Gelegenheit zu Mißverständnissen, Übergriffen und Klagen ähnlich


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[0162] lNarotto. Sultans Sidi Mohammed, des Vaters Muley Hassens, ausbrachen und das Land mit Blut überschwemmten. Das Gesetz des Islam, welches dem ältesten Mitgliede der herrschenden Dynastie, das aber nicht notwendig der älteste Sohn des Sultans zu sein braucht, die Thronfolge zuspricht, pflegt an muslimischen Höfen Streitigkeiten hervorzurufen, die, wenn sie nicht durch rasche Ermordung des einen der betreffenden Nebenbuhler für den andern entschieden werden, sich in Bürgerkriege verwandeln, die in Marokko umso größere Ausdehnung annehmen und umso länger dauern, als das Reich in eine Anzahl Provinzen zerfällt, deren Kaids oder Statthalter von der Zentralstelle fast unabhängig sind und sehr verschiedne Interessen haben, die sie dann in Anlehnung an eine der Parteien verfolgen, und die bei der Macht jener Satrapen den Staat mit Zerfall bedrohen. Ein solcher Thronstreit ist auch jetzt zu befürchten, indem neben dem zum Nachfolger Muley Hassens bestimmten Sohne desselben, dem Prinzen Muley Mohammed, der Prinz Muley Abbas, ein Sohn des 1869 verstorbenen Sultans Abdurmch- man, Anspruch auf die Nachfolge erhebt und eine starke Partei hinter sich hat. Diese Gefahr wäre selbstverständlich Sache der Marokkaner und ginge andre Völker und Staaten nur soweit an, als sie mit Marokko Handel treiben und mit ihm Verträge abgeschlossen haben, indem jener gestört werden würde und in Betreff dieser zu befürchten wäre, daß der Gegenkandidat des Kron¬ prinzen nach Verdrängung desselben und nach Einsetzung in die Gewalt fanatisch und übermütig erklärte, er fühle sich nicht an die von seinem Vorgänger den Kafirs eingeräumten Rechte gebunden. Neben dieser Gefahr liegt jedoch eine andre, die größer als sie und für weitere Kreise von Bedeutung ist: die Be¬ gehrlichkeit, mit welcher vorzüglich zwei Mächte Europas, beide unmittelbare Nachbarn Marokkos, schon längst auf das Land ihre Blicke gerichtet halten, die bei einem Bürgerkriege die Gelegenheit, sich Stücke desselben anzueignen, für gekommen erachten könnten, wozu es ihnen an Vorwünden gewiß nicht fehlen würde. Diese Mächte sind Frankreich und Spanien. Frankreich verfolgt schon seit Jahrzehnten den Plan, den Nordrand Afrikas, die Südküste des Mittel¬ meeres, in seine Gewalt zu bekommen. Es hat Algerien erobert, es hat sich das Protektorat über Tunesien und damit thatsächlich den Besitz dieses Landes verschafft, von welchem aus es das wenige Meilen entfernte Sizilien bedrohen kann, es besaß bis vor kurzem großen Einfluß in Ägypten, aus dem sich bei günstiger Gelegenheit mehr machen ließ, und den man zwar durch Englands rechtzeitiges Zugreifen verloren hat, aber unablässig wieder zu gewinnen bemüht gewesen ist. Frankreich hält die Augen auf Tripolis geheftet und nicht minder auf Marokko, zunächst auf die Oase Figig, die weitausgedehnter fruchtbaren Ebnen im Osten dieses maurischen Sultanats. Hier stößt die Grenze seiner Kolonie Algerien an marokkanisches Gebiet; sie ist aber noch nie mit voll¬ kommener Genauigkeit bestimmt worden. Infolge dessen findet sich hier fort¬ während Gelegenheit zu Mißverständnissen, Übergriffen und Klagen ähnlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/162>, abgerufen am 22.07.2024.