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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten.

baren Auffassung des Lebens zugewandt erscheint. Der Ausdruck dieser Em¬
pfindung aber erhebt sich selten zu einer vollen Eigentümlichkeit; Baehr hat
offenbar noch allzusehr den Drang, jedem Augenblick ein Lied zu weihen, und
schlägt demzufolge leicht Töne an, die ihm wohl aus dem Herzen quellen, aber
den Leser an tausendmal gehörte mahnen. Dem Dichter soll nicht nur die
Stimmung, sondern auch der Ausdruck der Stimmung gehören. Nicht alles
gewinnt durch die poetische Form. Wer Bachrs Gedicht "Der Husar" mit
der knappen, gedrängten Erzählung von Heinrich von Kleist, welcher der Stoff
entnommen ist, auch nur flüchtig vergleicht, der wird nicht anstehen, die derb¬
realistische Prosa der Poesie vorzuziehen. Auch den Gedichten Erde und
Eden von Ernst Harmening (Iman, Maule) fehlt der individuelle Gehalt
und die Eigenart der poetischen Sprache, durch welche der schöpferische Lyriker
sich von dem poetischen An- und Nachempfinder unterscheidet. Wie auch das
Kapitel von der Lyrik der Gegenwart anheben mag, es schließt unvermeidlicher¬
weise beim Übergange von der poetischen Kunst zum poetischen Dilettantismus.
Dabei scheu wir von jenen zahlreichen ans unserm Vüchertischc angehäuften Ein¬
sendungen ganz ab, von denen das bedenkliche Goethische Wort gilt, daß die
Leute mitunter recht artig pfuschen, wenn man einmal zugeben will, daß gepfuscht
werden soll und muß.




Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten.
21.

aß ich in der Wolle freisinnig gefärbt bin, brauche ich nicht erst
zu beteueri?, aber ihre Grenze muß auch die Preß- und Rede¬
freiheit haben. Wohin soll es kommen, wenn ganz gewöhnliche
Menschen sich herausnehmen, in Zeitungen und Versammlungen
das Verhalten der Staatsmänner von Volkes Gnaden zu bekritteln?
Haben wir nicht ein Recht, von Verrohung unsrer Sitten zu sprechen,
wenn der Unsinn, den ein Volksvertreter geredet hat, in der lieblosesten Weise öffent¬
lich als Unsinn bezeichnet wird? Wenn alles nach dein Kopfe der Sachverständigen
gehen sollte, wozu wären dann ich und meinesgleichen da? Jetzt kann die
Regierung zeigen, ob sie gleiches Recht walten lassen will. Ich richte deshalb
die Aufforderung an den Minister des Innern, unverzüglich dafür zu sorgen,
daß jede Versammlung aufgelöst und jede Zeitung konfiszirt wird, in welcher
ungehörige Bemerkungen über die Majorität der Militärkommission und des
Abgeordnetenhauses gemacht werden.

Außerdem bin ich in der Lage, zu beweisen, daß Kollege Richter gut unter¬
richtet war, als er die Gefahr der politischen Situation leugnete. Ich habe
bei einer Autorität, gegen welche niemand etwas einzuwenden haben wird, Er¬
kundigungen eingezogen, und die beruhigendsten Versicherungen erhalten. Herr
Wippchen -- ihn meine ich nämlich --' schreibt mir... ich übergehe den Ein¬
gang als zu schmeichelhaft für mich, folgendes: "Ihre sehr geehrten Zwerfel


Grenzlioten 1. 1887. 12
Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten.

baren Auffassung des Lebens zugewandt erscheint. Der Ausdruck dieser Em¬
pfindung aber erhebt sich selten zu einer vollen Eigentümlichkeit; Baehr hat
offenbar noch allzusehr den Drang, jedem Augenblick ein Lied zu weihen, und
schlägt demzufolge leicht Töne an, die ihm wohl aus dem Herzen quellen, aber
den Leser an tausendmal gehörte mahnen. Dem Dichter soll nicht nur die
Stimmung, sondern auch der Ausdruck der Stimmung gehören. Nicht alles
gewinnt durch die poetische Form. Wer Bachrs Gedicht „Der Husar" mit
der knappen, gedrängten Erzählung von Heinrich von Kleist, welcher der Stoff
entnommen ist, auch nur flüchtig vergleicht, der wird nicht anstehen, die derb¬
realistische Prosa der Poesie vorzuziehen. Auch den Gedichten Erde und
Eden von Ernst Harmening (Iman, Maule) fehlt der individuelle Gehalt
und die Eigenart der poetischen Sprache, durch welche der schöpferische Lyriker
sich von dem poetischen An- und Nachempfinder unterscheidet. Wie auch das
Kapitel von der Lyrik der Gegenwart anheben mag, es schließt unvermeidlicher¬
weise beim Übergange von der poetischen Kunst zum poetischen Dilettantismus.
Dabei scheu wir von jenen zahlreichen ans unserm Vüchertischc angehäuften Ein¬
sendungen ganz ab, von denen das bedenkliche Goethische Wort gilt, daß die
Leute mitunter recht artig pfuschen, wenn man einmal zugeben will, daß gepfuscht
werden soll und muß.




Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten.
21.

aß ich in der Wolle freisinnig gefärbt bin, brauche ich nicht erst
zu beteueri?, aber ihre Grenze muß auch die Preß- und Rede¬
freiheit haben. Wohin soll es kommen, wenn ganz gewöhnliche
Menschen sich herausnehmen, in Zeitungen und Versammlungen
das Verhalten der Staatsmänner von Volkes Gnaden zu bekritteln?
Haben wir nicht ein Recht, von Verrohung unsrer Sitten zu sprechen,
wenn der Unsinn, den ein Volksvertreter geredet hat, in der lieblosesten Weise öffent¬
lich als Unsinn bezeichnet wird? Wenn alles nach dein Kopfe der Sachverständigen
gehen sollte, wozu wären dann ich und meinesgleichen da? Jetzt kann die
Regierung zeigen, ob sie gleiches Recht walten lassen will. Ich richte deshalb
die Aufforderung an den Minister des Innern, unverzüglich dafür zu sorgen,
daß jede Versammlung aufgelöst und jede Zeitung konfiszirt wird, in welcher
ungehörige Bemerkungen über die Majorität der Militärkommission und des
Abgeordnetenhauses gemacht werden.

Außerdem bin ich in der Lage, zu beweisen, daß Kollege Richter gut unter¬
richtet war, als er die Gefahr der politischen Situation leugnete. Ich habe
bei einer Autorität, gegen welche niemand etwas einzuwenden haben wird, Er¬
kundigungen eingezogen, und die beruhigendsten Versicherungen erhalten. Herr
Wippchen — ihn meine ich nämlich —' schreibt mir... ich übergehe den Ein¬
gang als zu schmeichelhaft für mich, folgendes: „Ihre sehr geehrten Zwerfel


Grenzlioten 1. 1887. 12
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[0097] Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten. baren Auffassung des Lebens zugewandt erscheint. Der Ausdruck dieser Em¬ pfindung aber erhebt sich selten zu einer vollen Eigentümlichkeit; Baehr hat offenbar noch allzusehr den Drang, jedem Augenblick ein Lied zu weihen, und schlägt demzufolge leicht Töne an, die ihm wohl aus dem Herzen quellen, aber den Leser an tausendmal gehörte mahnen. Dem Dichter soll nicht nur die Stimmung, sondern auch der Ausdruck der Stimmung gehören. Nicht alles gewinnt durch die poetische Form. Wer Bachrs Gedicht „Der Husar" mit der knappen, gedrängten Erzählung von Heinrich von Kleist, welcher der Stoff entnommen ist, auch nur flüchtig vergleicht, der wird nicht anstehen, die derb¬ realistische Prosa der Poesie vorzuziehen. Auch den Gedichten Erde und Eden von Ernst Harmening (Iman, Maule) fehlt der individuelle Gehalt und die Eigenart der poetischen Sprache, durch welche der schöpferische Lyriker sich von dem poetischen An- und Nachempfinder unterscheidet. Wie auch das Kapitel von der Lyrik der Gegenwart anheben mag, es schließt unvermeidlicher¬ weise beim Übergange von der poetischen Kunst zum poetischen Dilettantismus. Dabei scheu wir von jenen zahlreichen ans unserm Vüchertischc angehäuften Ein¬ sendungen ganz ab, von denen das bedenkliche Goethische Wort gilt, daß die Leute mitunter recht artig pfuschen, wenn man einmal zugeben will, daß gepfuscht werden soll und muß. Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten. 21. aß ich in der Wolle freisinnig gefärbt bin, brauche ich nicht erst zu beteueri?, aber ihre Grenze muß auch die Preß- und Rede¬ freiheit haben. Wohin soll es kommen, wenn ganz gewöhnliche Menschen sich herausnehmen, in Zeitungen und Versammlungen das Verhalten der Staatsmänner von Volkes Gnaden zu bekritteln? Haben wir nicht ein Recht, von Verrohung unsrer Sitten zu sprechen, wenn der Unsinn, den ein Volksvertreter geredet hat, in der lieblosesten Weise öffent¬ lich als Unsinn bezeichnet wird? Wenn alles nach dein Kopfe der Sachverständigen gehen sollte, wozu wären dann ich und meinesgleichen da? Jetzt kann die Regierung zeigen, ob sie gleiches Recht walten lassen will. Ich richte deshalb die Aufforderung an den Minister des Innern, unverzüglich dafür zu sorgen, daß jede Versammlung aufgelöst und jede Zeitung konfiszirt wird, in welcher ungehörige Bemerkungen über die Majorität der Militärkommission und des Abgeordnetenhauses gemacht werden. Außerdem bin ich in der Lage, zu beweisen, daß Kollege Richter gut unter¬ richtet war, als er die Gefahr der politischen Situation leugnete. Ich habe bei einer Autorität, gegen welche niemand etwas einzuwenden haben wird, Er¬ kundigungen eingezogen, und die beruhigendsten Versicherungen erhalten. Herr Wippchen — ihn meine ich nämlich —' schreibt mir... ich übergehe den Ein¬ gang als zu schmeichelhaft für mich, folgendes: „Ihre sehr geehrten Zwerfel Grenzlioten 1. 1887. 12

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/97>, abgerufen am 28.09.2024.