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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Gymnasialunterricht und Fachbildung.
von Ludwig von Hirschfelo.
1.

s kann als ein günstiges Zeichen für die Abwesenheit ernster
Gefahren betrachtet werden, wenn sich die öffentliche Meinung
eines Landes von den wirtschaftlichen Tagesfragen ab und solchen
Fragen zuwendet, die nicht lediglich durch materielle Interessen
oder Parteirncksichteu aufgeworfen werden. Dogmatische Streitig¬
keiten, konfessionelle Zwiste, Meinungsverschiedenheiten über die Volkserziehung
finden nur in friedlichen Zeiten die Beachtung und das Verständnis der Menge.
Die letzten fünfzehn Friedensjahre habe" auch in Deutschland solche für Bildung
und Sittlichkeit bedeutende Fragen wieder in den Kreis öffentlicher Besprechung ge¬
zogen, und unter diesen taucht die Kritik unsers Schulwesens neuerdings mit einer
Beharrlichkeit auf, durch welche teils die Allgemeinheit des Interesses bekundet, teils
aber auch die Thatsache festgestellt wird, das; das Problem einer allen Ansprüchen
unsers Gesellschnftslebeus genügenden Organisation des gelehrten Unterrichtes noch
nicht gelöst ist. Zweifel an der Zweckmäßigkei des herrschenden Schnlshstems und
namentlich an den Vorzügen einer ausschließlich humanistischen Bildung sind
schon in frühern Jahrzehnten aufgetaucht; aber dieser Streit wurde mehr in
philologischen und pädagogischen Fachkreisen ausgesuchte", und die zu Anfang
unsers Jahrhunderts durch verschiedenartige politische und soziale Umwälzungen
auf den Thron erhobene klassische Richtung ist in diesen Kämpfen bis auf den
heutigen Tag Siegerin geblieben. Auch der Ansturm, den die Vertreter eines
mehr realistischen Bildungsganges in den sechziger und siebziger Jahren wiederholt
unternommen haben, hat die Grundlagen des humanistischen Schulshstems noch
nicht erschüttert. Aber das Gebäude hat doch einige Sprünge und Nisse be¬
kommen, welche die Frage nahelegen, ob nicht in früherer oder späterer Zeit ein
Neubau nötig werden wird. Daß bei der materialistischen Richtung unsrer Zeit
hierbei weiter und energischer vorgegangen werden könnte, als vorläufig in den
Absichten der berufenen Baumeister liegt, ist Gegenstand der Besorgnis aller
derer, welche das herrschende System auch unter Einräumung gewisser Mängel
verteidigen. Aus dieser Befürchtung schöpfen sie vor allem die Kraft ihres
Widerstandes gegen jede" Versuch einer Neuerung. Bei ihnen heißt es von
den Gymnasien: sind ut suur>. Die Abneigung gegen jeden Kompromiß bietet
denn auch zur Zeit das wesentliche Hindernis zur Verständigung und ent¬
sprechenden Reform.


Gymnasialunterricht und Fachbildung.
von Ludwig von Hirschfelo.
1.

s kann als ein günstiges Zeichen für die Abwesenheit ernster
Gefahren betrachtet werden, wenn sich die öffentliche Meinung
eines Landes von den wirtschaftlichen Tagesfragen ab und solchen
Fragen zuwendet, die nicht lediglich durch materielle Interessen
oder Parteirncksichteu aufgeworfen werden. Dogmatische Streitig¬
keiten, konfessionelle Zwiste, Meinungsverschiedenheiten über die Volkserziehung
finden nur in friedlichen Zeiten die Beachtung und das Verständnis der Menge.
Die letzten fünfzehn Friedensjahre habe» auch in Deutschland solche für Bildung
und Sittlichkeit bedeutende Fragen wieder in den Kreis öffentlicher Besprechung ge¬
zogen, und unter diesen taucht die Kritik unsers Schulwesens neuerdings mit einer
Beharrlichkeit auf, durch welche teils die Allgemeinheit des Interesses bekundet, teils
aber auch die Thatsache festgestellt wird, das; das Problem einer allen Ansprüchen
unsers Gesellschnftslebeus genügenden Organisation des gelehrten Unterrichtes noch
nicht gelöst ist. Zweifel an der Zweckmäßigkei des herrschenden Schnlshstems und
namentlich an den Vorzügen einer ausschließlich humanistischen Bildung sind
schon in frühern Jahrzehnten aufgetaucht; aber dieser Streit wurde mehr in
philologischen und pädagogischen Fachkreisen ausgesuchte», und die zu Anfang
unsers Jahrhunderts durch verschiedenartige politische und soziale Umwälzungen
auf den Thron erhobene klassische Richtung ist in diesen Kämpfen bis auf den
heutigen Tag Siegerin geblieben. Auch der Ansturm, den die Vertreter eines
mehr realistischen Bildungsganges in den sechziger und siebziger Jahren wiederholt
unternommen haben, hat die Grundlagen des humanistischen Schulshstems noch
nicht erschüttert. Aber das Gebäude hat doch einige Sprünge und Nisse be¬
kommen, welche die Frage nahelegen, ob nicht in früherer oder späterer Zeit ein
Neubau nötig werden wird. Daß bei der materialistischen Richtung unsrer Zeit
hierbei weiter und energischer vorgegangen werden könnte, als vorläufig in den
Absichten der berufenen Baumeister liegt, ist Gegenstand der Besorgnis aller
derer, welche das herrschende System auch unter Einräumung gewisser Mängel
verteidigen. Aus dieser Befürchtung schöpfen sie vor allem die Kraft ihres
Widerstandes gegen jede» Versuch einer Neuerung. Bei ihnen heißt es von
den Gymnasien: sind ut suur>. Die Abneigung gegen jeden Kompromiß bietet
denn auch zur Zeit das wesentliche Hindernis zur Verständigung und ent¬
sprechenden Reform.


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[0074] Gymnasialunterricht und Fachbildung. von Ludwig von Hirschfelo. 1. s kann als ein günstiges Zeichen für die Abwesenheit ernster Gefahren betrachtet werden, wenn sich die öffentliche Meinung eines Landes von den wirtschaftlichen Tagesfragen ab und solchen Fragen zuwendet, die nicht lediglich durch materielle Interessen oder Parteirncksichteu aufgeworfen werden. Dogmatische Streitig¬ keiten, konfessionelle Zwiste, Meinungsverschiedenheiten über die Volkserziehung finden nur in friedlichen Zeiten die Beachtung und das Verständnis der Menge. Die letzten fünfzehn Friedensjahre habe» auch in Deutschland solche für Bildung und Sittlichkeit bedeutende Fragen wieder in den Kreis öffentlicher Besprechung ge¬ zogen, und unter diesen taucht die Kritik unsers Schulwesens neuerdings mit einer Beharrlichkeit auf, durch welche teils die Allgemeinheit des Interesses bekundet, teils aber auch die Thatsache festgestellt wird, das; das Problem einer allen Ansprüchen unsers Gesellschnftslebeus genügenden Organisation des gelehrten Unterrichtes noch nicht gelöst ist. Zweifel an der Zweckmäßigkei des herrschenden Schnlshstems und namentlich an den Vorzügen einer ausschließlich humanistischen Bildung sind schon in frühern Jahrzehnten aufgetaucht; aber dieser Streit wurde mehr in philologischen und pädagogischen Fachkreisen ausgesuchte», und die zu Anfang unsers Jahrhunderts durch verschiedenartige politische und soziale Umwälzungen auf den Thron erhobene klassische Richtung ist in diesen Kämpfen bis auf den heutigen Tag Siegerin geblieben. Auch der Ansturm, den die Vertreter eines mehr realistischen Bildungsganges in den sechziger und siebziger Jahren wiederholt unternommen haben, hat die Grundlagen des humanistischen Schulshstems noch nicht erschüttert. Aber das Gebäude hat doch einige Sprünge und Nisse be¬ kommen, welche die Frage nahelegen, ob nicht in früherer oder späterer Zeit ein Neubau nötig werden wird. Daß bei der materialistischen Richtung unsrer Zeit hierbei weiter und energischer vorgegangen werden könnte, als vorläufig in den Absichten der berufenen Baumeister liegt, ist Gegenstand der Besorgnis aller derer, welche das herrschende System auch unter Einräumung gewisser Mängel verteidigen. Aus dieser Befürchtung schöpfen sie vor allem die Kraft ihres Widerstandes gegen jede» Versuch einer Neuerung. Bei ihnen heißt es von den Gymnasien: sind ut suur>. Die Abneigung gegen jeden Kompromiß bietet denn auch zur Zeit das wesentliche Hindernis zur Verständigung und ent¬ sprechenden Reform.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/74>, abgerufen am 29.06.2024.