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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Gymnasialunterricht und Fachbildung.

Wer den mannichfachen Äußerungen der Kritik gefolgt ist, die sich neuer¬
dings in der Tagespresse, in Zeitschriften, Versammlungen oder Privatgcsprächen
überall Luft machen, dem fällt zunächst die eigentümliche unlogische Vermengung
der verschiedenartigsten Ausstellungen auf, welche sich gegen das herrschende
Schulsystem richten. Mangel genügender Vorbereitung zum Beruf, Belastung
mit unnötigen Kenntnissen, falsche Lehrmethode, Überbürdung der Schiller, ge¬
sundheitsschädliche Einrichtung der Klassen, eigensinniges Festhalten an einem
unzweckmäßigen Lchrplcme, äußerliches Abrichten zum Examen, Übermaß der
Persa, Abwälzung der Lehrtätigkeit auf die häuslichen Arbeiten, auf Nachhilfe
und Privatunterricht -- alles das wird in einen Topf geworfen, und die Unzu¬
friedenen schöpfen daraus nach Beliebet?, wenn es gilt, ihrem Mißmute über die
bestehenden Einrichtungen Luft zu machen. Enttäuschungen der Eltern, per¬
sönliche Reibungen, kleine lokale Zwistigkeiten treten hinzu, und die daraus
entspringenden Klagen subjektiver Natur tragen nicht wenig dazu bei. das Ge¬
samtbild zu trüben. So macht sich denn schon in dem Streite der Meinungen
eine gewisse Erbitterung geltend, nnter der vor allem die Schüler selbst leiden,
indem der Widerspruch zwischen den herrschenden Grundsätzen der Schule und
deu im Elternhause oft geäußerten Anschnuuugen nachteilig ans die Lernbegier
und die Disziplin einwirkt. Wenn wir alle Übertreibungen und die vielen un¬
gerechtfertigten Vorwürfe von unsrer Untersuchung ausscheiden, so bleibt noch
Stoff genug für die Erörterung übrig. Auf alles einzugehen, liegt nicht in
meiner Absicht. Die Gesundheitspflege, die Überbürdungsfrage und die Kritik
der Lehrmethode lasse ich znnüchst beiseite und wende mich der großen prinzi¬
piellen Streitfrage zu, mit deren Lösung die Beseitigung auch vieler der andern
Mißstünde wird erzielt werden können. Diese Frage läßt sich kurz so zusammen¬
fassen: Sollen die Anstalten des gelehrten Unterrichts dem Schüler nur eine
allgemeine Bildung auf den Lebensweg mitgeben, oder fällt ihnen auch schon die
Aufgabe zu, vorbereitend für die spätere Berufsthätigkeit zu wirken? Die
Anstalt, welche hierbei natürlich in erster Linie gemeint wird, ist das Gym¬
nasium. Die Realschule ist bereits auf dem letztern jener beiden Standpunkte
begründet, und es kann sich dabei nur etwa um die Art und Weise Handel",
wie viel noch von dem geringen Maße humanistischer Bildung bei den über¬
wiegend realistischen Studien erhalten werden soll.

Man kann die Alleinherrschaft der humanistischen Richtung nur verstehen
und würdigen, wenn man sich ihre Entstehungsgeschichte vergegenwärtigt. Diese
Würdigung aber ist unbedingt nötig für den, der eine Entscheidung darüber
treffen soll, ob der Weg archaistischer Bildung ganz oder teilweise zu verlassen
sei. Die Feinde dieser Richtung würden ihr Urteil wesentlich abändern, wenn
sie einen Einblick in das Schulwesen früherer Zeit thäten und darin Zustände
kennen lernten, deren Wiederkehr keineswegs unmöglich ist. Der Formalismus
jener Zeit, der die Ausbildung des Verstandes durch lediglich rationale Studien


Gymnasialunterricht und Fachbildung.

Wer den mannichfachen Äußerungen der Kritik gefolgt ist, die sich neuer¬
dings in der Tagespresse, in Zeitschriften, Versammlungen oder Privatgcsprächen
überall Luft machen, dem fällt zunächst die eigentümliche unlogische Vermengung
der verschiedenartigsten Ausstellungen auf, welche sich gegen das herrschende
Schulsystem richten. Mangel genügender Vorbereitung zum Beruf, Belastung
mit unnötigen Kenntnissen, falsche Lehrmethode, Überbürdung der Schiller, ge¬
sundheitsschädliche Einrichtung der Klassen, eigensinniges Festhalten an einem
unzweckmäßigen Lchrplcme, äußerliches Abrichten zum Examen, Übermaß der
Persa, Abwälzung der Lehrtätigkeit auf die häuslichen Arbeiten, auf Nachhilfe
und Privatunterricht — alles das wird in einen Topf geworfen, und die Unzu¬
friedenen schöpfen daraus nach Beliebet?, wenn es gilt, ihrem Mißmute über die
bestehenden Einrichtungen Luft zu machen. Enttäuschungen der Eltern, per¬
sönliche Reibungen, kleine lokale Zwistigkeiten treten hinzu, und die daraus
entspringenden Klagen subjektiver Natur tragen nicht wenig dazu bei. das Ge¬
samtbild zu trüben. So macht sich denn schon in dem Streite der Meinungen
eine gewisse Erbitterung geltend, nnter der vor allem die Schüler selbst leiden,
indem der Widerspruch zwischen den herrschenden Grundsätzen der Schule und
deu im Elternhause oft geäußerten Anschnuuugen nachteilig ans die Lernbegier
und die Disziplin einwirkt. Wenn wir alle Übertreibungen und die vielen un¬
gerechtfertigten Vorwürfe von unsrer Untersuchung ausscheiden, so bleibt noch
Stoff genug für die Erörterung übrig. Auf alles einzugehen, liegt nicht in
meiner Absicht. Die Gesundheitspflege, die Überbürdungsfrage und die Kritik
der Lehrmethode lasse ich znnüchst beiseite und wende mich der großen prinzi¬
piellen Streitfrage zu, mit deren Lösung die Beseitigung auch vieler der andern
Mißstünde wird erzielt werden können. Diese Frage läßt sich kurz so zusammen¬
fassen: Sollen die Anstalten des gelehrten Unterrichts dem Schüler nur eine
allgemeine Bildung auf den Lebensweg mitgeben, oder fällt ihnen auch schon die
Aufgabe zu, vorbereitend für die spätere Berufsthätigkeit zu wirken? Die
Anstalt, welche hierbei natürlich in erster Linie gemeint wird, ist das Gym¬
nasium. Die Realschule ist bereits auf dem letztern jener beiden Standpunkte
begründet, und es kann sich dabei nur etwa um die Art und Weise Handel»,
wie viel noch von dem geringen Maße humanistischer Bildung bei den über¬
wiegend realistischen Studien erhalten werden soll.

Man kann die Alleinherrschaft der humanistischen Richtung nur verstehen
und würdigen, wenn man sich ihre Entstehungsgeschichte vergegenwärtigt. Diese
Würdigung aber ist unbedingt nötig für den, der eine Entscheidung darüber
treffen soll, ob der Weg archaistischer Bildung ganz oder teilweise zu verlassen
sei. Die Feinde dieser Richtung würden ihr Urteil wesentlich abändern, wenn
sie einen Einblick in das Schulwesen früherer Zeit thäten und darin Zustände
kennen lernten, deren Wiederkehr keineswegs unmöglich ist. Der Formalismus
jener Zeit, der die Ausbildung des Verstandes durch lediglich rationale Studien


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[0075] Gymnasialunterricht und Fachbildung. Wer den mannichfachen Äußerungen der Kritik gefolgt ist, die sich neuer¬ dings in der Tagespresse, in Zeitschriften, Versammlungen oder Privatgcsprächen überall Luft machen, dem fällt zunächst die eigentümliche unlogische Vermengung der verschiedenartigsten Ausstellungen auf, welche sich gegen das herrschende Schulsystem richten. Mangel genügender Vorbereitung zum Beruf, Belastung mit unnötigen Kenntnissen, falsche Lehrmethode, Überbürdung der Schiller, ge¬ sundheitsschädliche Einrichtung der Klassen, eigensinniges Festhalten an einem unzweckmäßigen Lchrplcme, äußerliches Abrichten zum Examen, Übermaß der Persa, Abwälzung der Lehrtätigkeit auf die häuslichen Arbeiten, auf Nachhilfe und Privatunterricht — alles das wird in einen Topf geworfen, und die Unzu¬ friedenen schöpfen daraus nach Beliebet?, wenn es gilt, ihrem Mißmute über die bestehenden Einrichtungen Luft zu machen. Enttäuschungen der Eltern, per¬ sönliche Reibungen, kleine lokale Zwistigkeiten treten hinzu, und die daraus entspringenden Klagen subjektiver Natur tragen nicht wenig dazu bei. das Ge¬ samtbild zu trüben. So macht sich denn schon in dem Streite der Meinungen eine gewisse Erbitterung geltend, nnter der vor allem die Schüler selbst leiden, indem der Widerspruch zwischen den herrschenden Grundsätzen der Schule und deu im Elternhause oft geäußerten Anschnuuugen nachteilig ans die Lernbegier und die Disziplin einwirkt. Wenn wir alle Übertreibungen und die vielen un¬ gerechtfertigten Vorwürfe von unsrer Untersuchung ausscheiden, so bleibt noch Stoff genug für die Erörterung übrig. Auf alles einzugehen, liegt nicht in meiner Absicht. Die Gesundheitspflege, die Überbürdungsfrage und die Kritik der Lehrmethode lasse ich znnüchst beiseite und wende mich der großen prinzi¬ piellen Streitfrage zu, mit deren Lösung die Beseitigung auch vieler der andern Mißstünde wird erzielt werden können. Diese Frage läßt sich kurz so zusammen¬ fassen: Sollen die Anstalten des gelehrten Unterrichts dem Schüler nur eine allgemeine Bildung auf den Lebensweg mitgeben, oder fällt ihnen auch schon die Aufgabe zu, vorbereitend für die spätere Berufsthätigkeit zu wirken? Die Anstalt, welche hierbei natürlich in erster Linie gemeint wird, ist das Gym¬ nasium. Die Realschule ist bereits auf dem letztern jener beiden Standpunkte begründet, und es kann sich dabei nur etwa um die Art und Weise Handel», wie viel noch von dem geringen Maße humanistischer Bildung bei den über¬ wiegend realistischen Studien erhalten werden soll. Man kann die Alleinherrschaft der humanistischen Richtung nur verstehen und würdigen, wenn man sich ihre Entstehungsgeschichte vergegenwärtigt. Diese Würdigung aber ist unbedingt nötig für den, der eine Entscheidung darüber treffen soll, ob der Weg archaistischer Bildung ganz oder teilweise zu verlassen sei. Die Feinde dieser Richtung würden ihr Urteil wesentlich abändern, wenn sie einen Einblick in das Schulwesen früherer Zeit thäten und darin Zustände kennen lernten, deren Wiederkehr keineswegs unmöglich ist. Der Formalismus jener Zeit, der die Ausbildung des Verstandes durch lediglich rationale Studien

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/75>, abgerufen am 01.07.2024.