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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Es konnte nie ermittelt werden, wie das achtjährige Kind, dnrch Felder
und Wälder irrend, ohne zu verhungern, sich so weit von seiner Heimat hatte
verlaufen können. Um seine Schicksale befragt, gab der wenig begabte Knabe
ganz unverständliche Antworten, aus denen nur hervorging, daß er meistenteils
im Walde gelebt haben mußte. Nach seinen schwer verständlichen Aussagen
wollte er die Nächte bei Hirschen zugebracht, auch die Nahrung, nämlich Buch¬
eckern, mit diesen geteilt haben. Erd- und Heidelbeeren hatten ihm gedient, seinen
Durst zu löschen. Einmal hatten im Walde lagernde "braune Menschen," wie
er sich ausdrückte, sich seiner angenommen und ihm zu essen gegeben. Mit diesen
-- wahrscheinlich stieß der Verirrte auf umherziehende Zigeuner -- war er
weitergegangen, bis er vor Müdigkeit eingeschlafen war. Ueber sein letztes Er¬
gehen vor der Auffindung durch seinen böhmischen Retter fehlte dem Verirrten
jede Erinnerung.

Der Heimgekehrte blieb lange Zeit für alle Dorfbewohner ein Gegenstand
neugierigen Anstannens, in der Schule aber wäre dem Aermsten seine unfrei¬
willige Wanderung beinahe zum Argen ausgeschlagen. Da er nämlich die
deutsche Sprache halb vergessen hatte und sie mit böhmischen, allen unverständ¬
lichen Wörtern seltsam ausstaffirte, so nannten seine Kameraden ihn den
"Böhmaken" oder nach seinem Taufnamen den "böhmischen Haus," was der
so gerufene übel vermerkte und als Beschimpfung ansah, weshalb es eine Zeit
lang allerhand Raufereien und Verdrießlichkeiten gab, die indes schließlich von
selbst wieder aufhörten'




6.

Mit dem Lesen des erwähnten Büchleins über die Reformation kam eine
Leselust über mich, die kaum zu befriedigen war. Vorher hatte mir der Vater
nur gestattet, unter seinen Augen und seiner besondern Aufsicht zu lesen. Dies
geschah auf seinem Studirzimmer des Nachmittags, wenn die Eltern zusammen
ihren Kaffee tranken. Der Vater las dann gewöhnlich theologische oder litera¬
rische Journale, während die Mutter mit einer Handarbeit beschäftigt war. Bei
einem mir ausstoßenden unbekannten Worte oder einem Satze, der mir nicht recht
verständlich war, mußte ich den Vater um Belehrung angehen; denn er hatte
den sehr vernünftigen Grundsatz, uns nach dem Lesen um den Inhalt des Ge¬
lesenen zu fragen. Konnten wir ihm darüber nicht klar und bestimmt berichten,
so gab es eine Strafaufgabe. Diese zweckmäßige Einrichtung nötigte uns beim
Lesen zu denken, immer bei der Sache zu bleiben und das Gelesene dem Ge¬
dächtnis einzuprägen.

In diesen Nachmittagsstunden, die wir Kinder als eine besondre Ver¬
günstigung wohl zu würdigen wußten, habe ich den ganzen, zwölf Bände starken
"Kinderfreund" von Weiße nach und nach durchgelesen. Am liebsten darin


Es konnte nie ermittelt werden, wie das achtjährige Kind, dnrch Felder
und Wälder irrend, ohne zu verhungern, sich so weit von seiner Heimat hatte
verlaufen können. Um seine Schicksale befragt, gab der wenig begabte Knabe
ganz unverständliche Antworten, aus denen nur hervorging, daß er meistenteils
im Walde gelebt haben mußte. Nach seinen schwer verständlichen Aussagen
wollte er die Nächte bei Hirschen zugebracht, auch die Nahrung, nämlich Buch¬
eckern, mit diesen geteilt haben. Erd- und Heidelbeeren hatten ihm gedient, seinen
Durst zu löschen. Einmal hatten im Walde lagernde „braune Menschen," wie
er sich ausdrückte, sich seiner angenommen und ihm zu essen gegeben. Mit diesen
— wahrscheinlich stieß der Verirrte auf umherziehende Zigeuner — war er
weitergegangen, bis er vor Müdigkeit eingeschlafen war. Ueber sein letztes Er¬
gehen vor der Auffindung durch seinen böhmischen Retter fehlte dem Verirrten
jede Erinnerung.

Der Heimgekehrte blieb lange Zeit für alle Dorfbewohner ein Gegenstand
neugierigen Anstannens, in der Schule aber wäre dem Aermsten seine unfrei¬
willige Wanderung beinahe zum Argen ausgeschlagen. Da er nämlich die
deutsche Sprache halb vergessen hatte und sie mit böhmischen, allen unverständ¬
lichen Wörtern seltsam ausstaffirte, so nannten seine Kameraden ihn den
„Böhmaken" oder nach seinem Taufnamen den „böhmischen Haus," was der
so gerufene übel vermerkte und als Beschimpfung ansah, weshalb es eine Zeit
lang allerhand Raufereien und Verdrießlichkeiten gab, die indes schließlich von
selbst wieder aufhörten'




6.

Mit dem Lesen des erwähnten Büchleins über die Reformation kam eine
Leselust über mich, die kaum zu befriedigen war. Vorher hatte mir der Vater
nur gestattet, unter seinen Augen und seiner besondern Aufsicht zu lesen. Dies
geschah auf seinem Studirzimmer des Nachmittags, wenn die Eltern zusammen
ihren Kaffee tranken. Der Vater las dann gewöhnlich theologische oder litera¬
rische Journale, während die Mutter mit einer Handarbeit beschäftigt war. Bei
einem mir ausstoßenden unbekannten Worte oder einem Satze, der mir nicht recht
verständlich war, mußte ich den Vater um Belehrung angehen; denn er hatte
den sehr vernünftigen Grundsatz, uns nach dem Lesen um den Inhalt des Ge¬
lesenen zu fragen. Konnten wir ihm darüber nicht klar und bestimmt berichten,
so gab es eine Strafaufgabe. Diese zweckmäßige Einrichtung nötigte uns beim
Lesen zu denken, immer bei der Sache zu bleiben und das Gelesene dem Ge¬
dächtnis einzuprägen.

In diesen Nachmittagsstunden, die wir Kinder als eine besondre Ver¬
günstigung wohl zu würdigen wußten, habe ich den ganzen, zwölf Bände starken
„Kinderfreund" von Weiße nach und nach durchgelesen. Am liebsten darin


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[0615] Es konnte nie ermittelt werden, wie das achtjährige Kind, dnrch Felder und Wälder irrend, ohne zu verhungern, sich so weit von seiner Heimat hatte verlaufen können. Um seine Schicksale befragt, gab der wenig begabte Knabe ganz unverständliche Antworten, aus denen nur hervorging, daß er meistenteils im Walde gelebt haben mußte. Nach seinen schwer verständlichen Aussagen wollte er die Nächte bei Hirschen zugebracht, auch die Nahrung, nämlich Buch¬ eckern, mit diesen geteilt haben. Erd- und Heidelbeeren hatten ihm gedient, seinen Durst zu löschen. Einmal hatten im Walde lagernde „braune Menschen," wie er sich ausdrückte, sich seiner angenommen und ihm zu essen gegeben. Mit diesen — wahrscheinlich stieß der Verirrte auf umherziehende Zigeuner — war er weitergegangen, bis er vor Müdigkeit eingeschlafen war. Ueber sein letztes Er¬ gehen vor der Auffindung durch seinen böhmischen Retter fehlte dem Verirrten jede Erinnerung. Der Heimgekehrte blieb lange Zeit für alle Dorfbewohner ein Gegenstand neugierigen Anstannens, in der Schule aber wäre dem Aermsten seine unfrei¬ willige Wanderung beinahe zum Argen ausgeschlagen. Da er nämlich die deutsche Sprache halb vergessen hatte und sie mit böhmischen, allen unverständ¬ lichen Wörtern seltsam ausstaffirte, so nannten seine Kameraden ihn den „Böhmaken" oder nach seinem Taufnamen den „böhmischen Haus," was der so gerufene übel vermerkte und als Beschimpfung ansah, weshalb es eine Zeit lang allerhand Raufereien und Verdrießlichkeiten gab, die indes schließlich von selbst wieder aufhörten' 6. Mit dem Lesen des erwähnten Büchleins über die Reformation kam eine Leselust über mich, die kaum zu befriedigen war. Vorher hatte mir der Vater nur gestattet, unter seinen Augen und seiner besondern Aufsicht zu lesen. Dies geschah auf seinem Studirzimmer des Nachmittags, wenn die Eltern zusammen ihren Kaffee tranken. Der Vater las dann gewöhnlich theologische oder litera¬ rische Journale, während die Mutter mit einer Handarbeit beschäftigt war. Bei einem mir ausstoßenden unbekannten Worte oder einem Satze, der mir nicht recht verständlich war, mußte ich den Vater um Belehrung angehen; denn er hatte den sehr vernünftigen Grundsatz, uns nach dem Lesen um den Inhalt des Ge¬ lesenen zu fragen. Konnten wir ihm darüber nicht klar und bestimmt berichten, so gab es eine Strafaufgabe. Diese zweckmäßige Einrichtung nötigte uns beim Lesen zu denken, immer bei der Sache zu bleiben und das Gelesene dem Ge¬ dächtnis einzuprägen. In diesen Nachmittagsstunden, die wir Kinder als eine besondre Ver¬ günstigung wohl zu würdigen wußten, habe ich den ganzen, zwölf Bände starken „Kinderfreund" von Weiße nach und nach durchgelesen. Am liebsten darin

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/615>, abgerufen am 29.06.2024.