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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Zur Geschichte der Nationalliberalen.

me politische Partei, die auf keine Utopien zusteuert und jeden
Schritt, welcher sie ihren Zielen näher bringt, also auch einen
kleinen, wenn dem größern unüberwindliche Hindernisse erwachsen,
für einen Gewinn hält, wird in bewegten Zeiten immer einen
schweren Stand haben. Sich als "Ganzer" aufzuspielen, ist,
besonders wenn damit keine Verantwortlichkeit übernommen wird, das leichteste
von der Welt; und mögen Rechte und Linke noch so spinnefeind sein, in Haß
und Verachtung der "Halben" pflegen sie sich brüderlich zu begegnen. Sich
mit dem Möglichen, dem Erreichbaren begnügen, auf morgen vertage", was
heute nicht geleistet werden kauu, weder mit dem Kopfe durch die Wand rennen
wollen, noch sich schmollend zurückziehen, falls die Thür nicht genau da durch¬
gebrochen werden soll, wo man sie gefordert hatte -- das gilt als Charakter¬
schwäche, wenn nicht gar unlautere Beweggründe untergeschoben werden. Und als
Beispiele dienen dafür die Vorsichtigen und Unentschlossenen, welche sich aller¬
dings gern unter das schirmende Dach der Mittelparteien flüchten; wobei man
nur übersieht, daß gerade solche Anhänger des -lusts rnitiöu schleunigst eine
andre Richtung einschlagen, wenn jenes Dach nicht mehr den gewünschten Schutz
zu gewähren scheint.

In wie reichem Maße diese Erfahrungen die nationalliberale Partei in
Deutschland gemacht hat, ist bekannt. Unter verschiednen Namen, als Konsti¬
tutionelle, Gothaer, Liberale, besteht sie im wesentlichen ziemlich unverändert
seit deu dreißiger Jahren. Auf dem Hambacher Fest schied sie sich wohl zum
erstenmale bestimmt von denjenigen Revolutionären, welche Deutschland mit Hilfe
der Franzosen "befreien" wollten. Revolutionär war vielleicht mancher auch
von ihnen gesinnt, da es unmöglich schien, das öffentliche Leben seiner Fesseln
ohne Anwendung der Gewalt zu entledigen; aber so viele damals und später
dem Grundirrtum der Girondisten verfielen, das Vaterlandsgcfühl, der nationale
Stolz hielt sie von jener äußersten Verirrung zurück, und Studien und Er¬
fahrungen ließen sie den Wert der gesetzlichen Entwicklung erkenne". Lang¬
samer brach sich die -- wohl zuerst von Paul Pfizer bestimmt ausgesprochene --
Überzeugung Bahn, daß Preußen, und dieser Staat allein, den Beruf habe,
Deutschland aus der Zerrissenheit und Unfreiheit zu erlösen; und die Vernich¬
tung der Hoffnungen, welche an den Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV.
geknüpft worden waren, nährte in den Einzellandtcigcn und der Presse der
kleinern Staaten den Partikularismus und deu Radikalismus, bis der Ver-


Zur Geschichte der Nationalliberalen.

me politische Partei, die auf keine Utopien zusteuert und jeden
Schritt, welcher sie ihren Zielen näher bringt, also auch einen
kleinen, wenn dem größern unüberwindliche Hindernisse erwachsen,
für einen Gewinn hält, wird in bewegten Zeiten immer einen
schweren Stand haben. Sich als „Ganzer" aufzuspielen, ist,
besonders wenn damit keine Verantwortlichkeit übernommen wird, das leichteste
von der Welt; und mögen Rechte und Linke noch so spinnefeind sein, in Haß
und Verachtung der „Halben" pflegen sie sich brüderlich zu begegnen. Sich
mit dem Möglichen, dem Erreichbaren begnügen, auf morgen vertage», was
heute nicht geleistet werden kauu, weder mit dem Kopfe durch die Wand rennen
wollen, noch sich schmollend zurückziehen, falls die Thür nicht genau da durch¬
gebrochen werden soll, wo man sie gefordert hatte — das gilt als Charakter¬
schwäche, wenn nicht gar unlautere Beweggründe untergeschoben werden. Und als
Beispiele dienen dafür die Vorsichtigen und Unentschlossenen, welche sich aller¬
dings gern unter das schirmende Dach der Mittelparteien flüchten; wobei man
nur übersieht, daß gerade solche Anhänger des -lusts rnitiöu schleunigst eine
andre Richtung einschlagen, wenn jenes Dach nicht mehr den gewünschten Schutz
zu gewähren scheint.

In wie reichem Maße diese Erfahrungen die nationalliberale Partei in
Deutschland gemacht hat, ist bekannt. Unter verschiednen Namen, als Konsti¬
tutionelle, Gothaer, Liberale, besteht sie im wesentlichen ziemlich unverändert
seit deu dreißiger Jahren. Auf dem Hambacher Fest schied sie sich wohl zum
erstenmale bestimmt von denjenigen Revolutionären, welche Deutschland mit Hilfe
der Franzosen „befreien" wollten. Revolutionär war vielleicht mancher auch
von ihnen gesinnt, da es unmöglich schien, das öffentliche Leben seiner Fesseln
ohne Anwendung der Gewalt zu entledigen; aber so viele damals und später
dem Grundirrtum der Girondisten verfielen, das Vaterlandsgcfühl, der nationale
Stolz hielt sie von jener äußersten Verirrung zurück, und Studien und Er¬
fahrungen ließen sie den Wert der gesetzlichen Entwicklung erkenne». Lang¬
samer brach sich die — wohl zuerst von Paul Pfizer bestimmt ausgesprochene —
Überzeugung Bahn, daß Preußen, und dieser Staat allein, den Beruf habe,
Deutschland aus der Zerrissenheit und Unfreiheit zu erlösen; und die Vernich¬
tung der Hoffnungen, welche an den Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV.
geknüpft worden waren, nährte in den Einzellandtcigcn und der Presse der
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[0516] Zur Geschichte der Nationalliberalen. me politische Partei, die auf keine Utopien zusteuert und jeden Schritt, welcher sie ihren Zielen näher bringt, also auch einen kleinen, wenn dem größern unüberwindliche Hindernisse erwachsen, für einen Gewinn hält, wird in bewegten Zeiten immer einen schweren Stand haben. Sich als „Ganzer" aufzuspielen, ist, besonders wenn damit keine Verantwortlichkeit übernommen wird, das leichteste von der Welt; und mögen Rechte und Linke noch so spinnefeind sein, in Haß und Verachtung der „Halben" pflegen sie sich brüderlich zu begegnen. Sich mit dem Möglichen, dem Erreichbaren begnügen, auf morgen vertage», was heute nicht geleistet werden kauu, weder mit dem Kopfe durch die Wand rennen wollen, noch sich schmollend zurückziehen, falls die Thür nicht genau da durch¬ gebrochen werden soll, wo man sie gefordert hatte — das gilt als Charakter¬ schwäche, wenn nicht gar unlautere Beweggründe untergeschoben werden. Und als Beispiele dienen dafür die Vorsichtigen und Unentschlossenen, welche sich aller¬ dings gern unter das schirmende Dach der Mittelparteien flüchten; wobei man nur übersieht, daß gerade solche Anhänger des -lusts rnitiöu schleunigst eine andre Richtung einschlagen, wenn jenes Dach nicht mehr den gewünschten Schutz zu gewähren scheint. In wie reichem Maße diese Erfahrungen die nationalliberale Partei in Deutschland gemacht hat, ist bekannt. Unter verschiednen Namen, als Konsti¬ tutionelle, Gothaer, Liberale, besteht sie im wesentlichen ziemlich unverändert seit deu dreißiger Jahren. Auf dem Hambacher Fest schied sie sich wohl zum erstenmale bestimmt von denjenigen Revolutionären, welche Deutschland mit Hilfe der Franzosen „befreien" wollten. Revolutionär war vielleicht mancher auch von ihnen gesinnt, da es unmöglich schien, das öffentliche Leben seiner Fesseln ohne Anwendung der Gewalt zu entledigen; aber so viele damals und später dem Grundirrtum der Girondisten verfielen, das Vaterlandsgcfühl, der nationale Stolz hielt sie von jener äußersten Verirrung zurück, und Studien und Er¬ fahrungen ließen sie den Wert der gesetzlichen Entwicklung erkenne». Lang¬ samer brach sich die — wohl zuerst von Paul Pfizer bestimmt ausgesprochene — Überzeugung Bahn, daß Preußen, und dieser Staat allein, den Beruf habe, Deutschland aus der Zerrissenheit und Unfreiheit zu erlösen; und die Vernich¬ tung der Hoffnungen, welche an den Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. geknüpft worden waren, nährte in den Einzellandtcigcn und der Presse der kleinern Staaten den Partikularismus und deu Radikalismus, bis der Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/516>, abgerufen am 29.06.2024.