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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten.

armen, nur der Wissenschaft, der geistigen Arbeit gewidmeten Leben. Es ist
die beschauliche Existenz des Gelehrten und Denkers, und als Gelehrten und
Denker wollen wir ihn nun in den folgenden Blattern betrachten.

(Schluß folgt.)




Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten.
22.

itbnrgcr! Wähler! Für euch ist ein großer Augenblick gekommen.
Die Welt, welche sonst nur auf uns sieht, richtet heute ihre Blicke
auch auf euch, und erwartet, daß jeder wahlberechtigte Deutsche
seine Schuldigkeit thun werde. Zeigt euch würdig eines solchen
Vertrauens. Die heiligste" Rechte des Volkes stehen auf dem
Spiele. Jene freiheitsfeindlicheu Mächte, welche die Gewalt an sich gerissen
haben, wollen euch verhindern, jedes dritte Jahr euch an der Weisheit der
Svnntagsstrategeu zu erbauen: das ist der Kern der ganzen Streitfrage. Muß
ich noch ausdrücklich hervorheben, daß das einen Eingriff in die durch die Ver¬
fassung gewährleistete Freiheit der Religionsübung bedeutet? Den Finsterlingen
soll es gestattet sein, jeden siebenten Tag sich etwas über Bibeltexte vvrprcdigeu
zu lassen, ihr aber, die ihr aufgeklärt seid, sollt euch sieben Jahre gedulden,
bis durch eine Rede Richters über die Kndres euer Glanbensbednrfuis befriedigt
Wird. Das könnt, das werdet ihr euch nicht gefallen lassen. nichtswürdig ist
die Nation, die nicht ihr alles einsetzt für die Ehre, sich etwas Unverantwort¬
liches vorreden zu lassen, sagt der Dichter -- wollt ihr als Nichtswürdige da¬
stehen?

Ich weiß wohl, daß die glorreiche Abstimmung vom 14. Januar vielfach
getadelt wird. Es ist eine Verschwörung gegen uns angezettelt worden in der
ganzen Welt, und wer der Opposition angehört, kann sich vorkommen wie der
Psnlmist, wenn er singt: "Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott
der Leute und Verachtung des Volkes. Alle, die mich sehen, spotten meiner
sperren das Maul aus und schütteln den Kopf." Nun könntet ihr wohl sagen:
Was verstehen die Österreicher, die Engländer, die Italiener, die Franzosen und
wie sie alle heißen mögen, die sich über uus lustig machen oder uns Grobheiten
sagen, was verstehen die von unsern Angelegenheiten! Aber was ihr da zu
hören bekommt, ist ja garnicht die Stimme des Volkes, sondern die Stimme
besoldeter Preßagenten, alle Zeitungen, welche gegen uns schreiben, sind von
unsrer Negierung gekauft, sind Neptilicublättcr, und wenn sich nicht Kapläne
und Börscurepvrter unser annähmen, so würde es überhaupt keine unabhängige
Presse mehr geben. Ihr staunt; daß die Korruption einen solchen Umfang an-


Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten.

armen, nur der Wissenschaft, der geistigen Arbeit gewidmeten Leben. Es ist
die beschauliche Existenz des Gelehrten und Denkers, und als Gelehrten und
Denker wollen wir ihn nun in den folgenden Blattern betrachten.

(Schluß folgt.)




Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten.
22.

itbnrgcr! Wähler! Für euch ist ein großer Augenblick gekommen.
Die Welt, welche sonst nur auf uns sieht, richtet heute ihre Blicke
auch auf euch, und erwartet, daß jeder wahlberechtigte Deutsche
seine Schuldigkeit thun werde. Zeigt euch würdig eines solchen
Vertrauens. Die heiligste» Rechte des Volkes stehen auf dem
Spiele. Jene freiheitsfeindlicheu Mächte, welche die Gewalt an sich gerissen
haben, wollen euch verhindern, jedes dritte Jahr euch an der Weisheit der
Svnntagsstrategeu zu erbauen: das ist der Kern der ganzen Streitfrage. Muß
ich noch ausdrücklich hervorheben, daß das einen Eingriff in die durch die Ver¬
fassung gewährleistete Freiheit der Religionsübung bedeutet? Den Finsterlingen
soll es gestattet sein, jeden siebenten Tag sich etwas über Bibeltexte vvrprcdigeu
zu lassen, ihr aber, die ihr aufgeklärt seid, sollt euch sieben Jahre gedulden,
bis durch eine Rede Richters über die Kndres euer Glanbensbednrfuis befriedigt
Wird. Das könnt, das werdet ihr euch nicht gefallen lassen. nichtswürdig ist
die Nation, die nicht ihr alles einsetzt für die Ehre, sich etwas Unverantwort¬
liches vorreden zu lassen, sagt der Dichter — wollt ihr als Nichtswürdige da¬
stehen?

Ich weiß wohl, daß die glorreiche Abstimmung vom 14. Januar vielfach
getadelt wird. Es ist eine Verschwörung gegen uns angezettelt worden in der
ganzen Welt, und wer der Opposition angehört, kann sich vorkommen wie der
Psnlmist, wenn er singt: „Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott
der Leute und Verachtung des Volkes. Alle, die mich sehen, spotten meiner
sperren das Maul aus und schütteln den Kopf." Nun könntet ihr wohl sagen:
Was verstehen die Österreicher, die Engländer, die Italiener, die Franzosen und
wie sie alle heißen mögen, die sich über uus lustig machen oder uns Grobheiten
sagen, was verstehen die von unsern Angelegenheiten! Aber was ihr da zu
hören bekommt, ist ja garnicht die Stimme des Volkes, sondern die Stimme
besoldeter Preßagenten, alle Zeitungen, welche gegen uns schreiben, sind von
unsrer Negierung gekauft, sind Neptilicublättcr, und wenn sich nicht Kapläne
und Börscurepvrter unser annähmen, so würde es überhaupt keine unabhängige
Presse mehr geben. Ihr staunt; daß die Korruption einen solchen Umfang an-


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[0239] Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten. armen, nur der Wissenschaft, der geistigen Arbeit gewidmeten Leben. Es ist die beschauliche Existenz des Gelehrten und Denkers, und als Gelehrten und Denker wollen wir ihn nun in den folgenden Blattern betrachten. (Schluß folgt.) Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten. 22. itbnrgcr! Wähler! Für euch ist ein großer Augenblick gekommen. Die Welt, welche sonst nur auf uns sieht, richtet heute ihre Blicke auch auf euch, und erwartet, daß jeder wahlberechtigte Deutsche seine Schuldigkeit thun werde. Zeigt euch würdig eines solchen Vertrauens. Die heiligste» Rechte des Volkes stehen auf dem Spiele. Jene freiheitsfeindlicheu Mächte, welche die Gewalt an sich gerissen haben, wollen euch verhindern, jedes dritte Jahr euch an der Weisheit der Svnntagsstrategeu zu erbauen: das ist der Kern der ganzen Streitfrage. Muß ich noch ausdrücklich hervorheben, daß das einen Eingriff in die durch die Ver¬ fassung gewährleistete Freiheit der Religionsübung bedeutet? Den Finsterlingen soll es gestattet sein, jeden siebenten Tag sich etwas über Bibeltexte vvrprcdigeu zu lassen, ihr aber, die ihr aufgeklärt seid, sollt euch sieben Jahre gedulden, bis durch eine Rede Richters über die Kndres euer Glanbensbednrfuis befriedigt Wird. Das könnt, das werdet ihr euch nicht gefallen lassen. nichtswürdig ist die Nation, die nicht ihr alles einsetzt für die Ehre, sich etwas Unverantwort¬ liches vorreden zu lassen, sagt der Dichter — wollt ihr als Nichtswürdige da¬ stehen? Ich weiß wohl, daß die glorreiche Abstimmung vom 14. Januar vielfach getadelt wird. Es ist eine Verschwörung gegen uns angezettelt worden in der ganzen Welt, und wer der Opposition angehört, kann sich vorkommen wie der Psnlmist, wenn er singt: „Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und Verachtung des Volkes. Alle, die mich sehen, spotten meiner sperren das Maul aus und schütteln den Kopf." Nun könntet ihr wohl sagen: Was verstehen die Österreicher, die Engländer, die Italiener, die Franzosen und wie sie alle heißen mögen, die sich über uus lustig machen oder uns Grobheiten sagen, was verstehen die von unsern Angelegenheiten! Aber was ihr da zu hören bekommt, ist ja garnicht die Stimme des Volkes, sondern die Stimme besoldeter Preßagenten, alle Zeitungen, welche gegen uns schreiben, sind von unsrer Negierung gekauft, sind Neptilicublättcr, und wenn sich nicht Kapläne und Börscurepvrter unser annähmen, so würde es überhaupt keine unabhängige Presse mehr geben. Ihr staunt; daß die Korruption einen solchen Umfang an-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/239>, abgerufen am 29.06.2024.