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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Literatur.

derselben, die für den Fachgelehrten von Wert sind, und ans denen sich eine im
ganzen brauchbare Uebersicht über die Hanptvorgänge der Entstehung und Ent¬
wicklung des russischen Staates für populäre Zwecke zusammenstellen läßt, wenn
der Bearbeiter mit der nötigen allgemeinen Bildung und mit unparteiischen Urteil
an seine Aufgabe geht. Ein solches Werk haben wir hier vor uns. Nur in den
Fällen, wo bei der Darstellung Frankreichs und Deutschlands gedacht werden muß,
gelingt dem Verfasser sein Bemühen, parteilos zu bleiben, nicht ganz. Aber im
allgemeinem ist ihm die Anerkennung nicht zu versagen, daß er ein Handbuch für
das große Publikum geliefert hat, welches dasselbe über die Vergangenheit Rußlands
gut unterrichtet und ihm so das Verständnis von dessen Gegenwart erleichtert. Er
hat fleißig die Quellen gelesen, er versteht, gehörig zu gruppiren, seine Bilder von
Zuständen und Personen sind anschaulich gekennzeichnet, und ohne breit zu werden,
behandelt er eingehend die verschiednen Wandlungen seines Gegenstandes nach ihren
Ursachen und Wirkungen. Auch die Uebersetzung des Wertes, das beiläufig von der
französischen Akademie mit einem Preise bedacht worden ist, verdient Lob, wenn
sie auch in dein Bestreben, Fremdwörter zu vermeiden, nicht immer ganz glücklich
ist. Als willkommene Beilagen sind endlich die vier kleinen Karten zu bezeichnen,
von denen die erste die Gruppirung der einzelnen Völkerstämme Rußlands im nennten
Jahrhundert, die zweite die heutige, die dritte die Entstehung des Zartums Moskau
in der Periode vou Daniel Alexandrowitsch bis Alexis Michcnlvwitsch und die vierte
die Vergrößerung des russischen Reiches unter Peter dem Großen und seinen Nach¬
folgern zeigt.


Dämmerungen. Eine Dichtung von Otto von Leixner. Stuttgart, Adolf Bonz und
Ccmip,, 1L86.

Es sind die alten ungelösten Nätselfragen des Daseins, an denen sich von
tausend Menschenaltern die indische und hebräische Lyrik und seitdem die Dichtung
aller Welt versucht hat, die Fragen, die in jedem einzelnen Dasein wiederkehren
und die auch der Gläubigste nur subjektiv, nur für sich selbst lösen kann, denen
sich auch Leixncrs ernste Muse wieder zuwendet. Die Zweifel sind seit der Zeit,
in welcher der brave Tiedge "Mir auch war ein Morgen aufgegangen" sang, und
in seiner "Urania" seinen kindlich-guten und unerschütterlichen Unsterblichkeitsglauben
gegen alle Anfechtungen verteidigte, um ein gutes Teil grimmiger, herber, seelen-
erschüttcrnder geworden, die Zahl derer aber, welche bei der Dichtung Trost und
Erquickung in Zweifeln suchen, hat in demselben Maße abgenommen. Wenn heute
ein Dichter wie Otto vou Lcixner das uralte Thema wieder ergreift, so gesellt
sich zu dein verzweifelten Suchen der Kreatur nach der Gottcsgewißheit in der
Natur die düstere Frage nach dem Gottesgedanken in der Menschenwelt. Je tiefer
der Dichter die gläubige Hoffnung in sich trägt, daß die Liebe die Welt befreie"
und erlösen werde, umso härter empfindet er die grellen Widersprüche, welche das
moderne Leben, das soziale Elend in seinen schauerlichsten Gestalten dieser Hoff¬
nung entgegensetzen. Die Mahnung, daß reiner und tiefer Glaube sich zu jeuer
Liebeskraft erheben müsse, "die nicht in eignem Leid erschlafft," daß kein Geistes-
anferstehungstag mehr kommen kann, der nicht zugleich ein Aufcrstehuugstag werk-
thätiger Liebe ist, klingt mächtig dnrch die gedaukeuvollc Dichtung hindurch und
leiht den "Dämmerungen" zwar nicht Siegesgewißheit, aber doch duldenden Mut
und ethisches Pathos.




Für die Redaktion verciutivvrtlich: Johannes Grunvw in Leipzig.
Verlag vou Fr. Wilh. Grnnow in Leipzig. -- Druck v^)u Carl Marquart in Leipzig.
Literatur.

derselben, die für den Fachgelehrten von Wert sind, und ans denen sich eine im
ganzen brauchbare Uebersicht über die Hanptvorgänge der Entstehung und Ent¬
wicklung des russischen Staates für populäre Zwecke zusammenstellen läßt, wenn
der Bearbeiter mit der nötigen allgemeinen Bildung und mit unparteiischen Urteil
an seine Aufgabe geht. Ein solches Werk haben wir hier vor uns. Nur in den
Fällen, wo bei der Darstellung Frankreichs und Deutschlands gedacht werden muß,
gelingt dem Verfasser sein Bemühen, parteilos zu bleiben, nicht ganz. Aber im
allgemeinem ist ihm die Anerkennung nicht zu versagen, daß er ein Handbuch für
das große Publikum geliefert hat, welches dasselbe über die Vergangenheit Rußlands
gut unterrichtet und ihm so das Verständnis von dessen Gegenwart erleichtert. Er
hat fleißig die Quellen gelesen, er versteht, gehörig zu gruppiren, seine Bilder von
Zuständen und Personen sind anschaulich gekennzeichnet, und ohne breit zu werden,
behandelt er eingehend die verschiednen Wandlungen seines Gegenstandes nach ihren
Ursachen und Wirkungen. Auch die Uebersetzung des Wertes, das beiläufig von der
französischen Akademie mit einem Preise bedacht worden ist, verdient Lob, wenn
sie auch in dein Bestreben, Fremdwörter zu vermeiden, nicht immer ganz glücklich
ist. Als willkommene Beilagen sind endlich die vier kleinen Karten zu bezeichnen,
von denen die erste die Gruppirung der einzelnen Völkerstämme Rußlands im nennten
Jahrhundert, die zweite die heutige, die dritte die Entstehung des Zartums Moskau
in der Periode vou Daniel Alexandrowitsch bis Alexis Michcnlvwitsch und die vierte
die Vergrößerung des russischen Reiches unter Peter dem Großen und seinen Nach¬
folgern zeigt.


Dämmerungen. Eine Dichtung von Otto von Leixner. Stuttgart, Adolf Bonz und
Ccmip,, 1L86.

Es sind die alten ungelösten Nätselfragen des Daseins, an denen sich von
tausend Menschenaltern die indische und hebräische Lyrik und seitdem die Dichtung
aller Welt versucht hat, die Fragen, die in jedem einzelnen Dasein wiederkehren
und die auch der Gläubigste nur subjektiv, nur für sich selbst lösen kann, denen
sich auch Leixncrs ernste Muse wieder zuwendet. Die Zweifel sind seit der Zeit,
in welcher der brave Tiedge „Mir auch war ein Morgen aufgegangen" sang, und
in seiner „Urania" seinen kindlich-guten und unerschütterlichen Unsterblichkeitsglauben
gegen alle Anfechtungen verteidigte, um ein gutes Teil grimmiger, herber, seelen-
erschüttcrnder geworden, die Zahl derer aber, welche bei der Dichtung Trost und
Erquickung in Zweifeln suchen, hat in demselben Maße abgenommen. Wenn heute
ein Dichter wie Otto vou Lcixner das uralte Thema wieder ergreift, so gesellt
sich zu dein verzweifelten Suchen der Kreatur nach der Gottcsgewißheit in der
Natur die düstere Frage nach dem Gottesgedanken in der Menschenwelt. Je tiefer
der Dichter die gläubige Hoffnung in sich trägt, daß die Liebe die Welt befreie»
und erlösen werde, umso härter empfindet er die grellen Widersprüche, welche das
moderne Leben, das soziale Elend in seinen schauerlichsten Gestalten dieser Hoff¬
nung entgegensetzen. Die Mahnung, daß reiner und tiefer Glaube sich zu jeuer
Liebeskraft erheben müsse, „die nicht in eignem Leid erschlafft," daß kein Geistes-
anferstehungstag mehr kommen kann, der nicht zugleich ein Aufcrstehuugstag werk-
thätiger Liebe ist, klingt mächtig dnrch die gedaukeuvollc Dichtung hindurch und
leiht den „Dämmerungen" zwar nicht Siegesgewißheit, aber doch duldenden Mut
und ethisches Pathos.




Für die Redaktion verciutivvrtlich: Johannes Grunvw in Leipzig.
Verlag vou Fr. Wilh. Grnnow in Leipzig. — Druck v^)u Carl Marquart in Leipzig.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/200>, abgerufen am 22.12.2024.