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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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sichten, gewisse Grundlagen der deutschen literarischen Kritik aus den Tagen
der von Borinski durchforschten und besprochenen Poetik stammen, so wird auch
er nicht in Abrede stellen wollen, daß zu einer "wirklich befriedigenden Ästhetik"
immer noch etwas andres gehört als die "Norm," welche die deutsche Re¬
naissance aus den Beispielen der Antike schöpfte. Um den Mißstand, daß alle
auf ihrem Wege gewonnenen Regeln in einem Kunstwerke befolgt sein können
und eben dies Werk dennoch völlig leblos sein kann, daß jeder dieser Regeln
(wie es bei Ariost geschieht) ins Gesicht geschlagen sein darf, aber wahre Poesie
und poetisches Leben vorhanden bleiben, ist eben doch nicht herumzukommen,
wenn nicht voraus- und hinzugesetzt wird, daß "die Macht des Beispiels" auch
die Fühlung für das, was lebendig und naturnotwendig gewachsen ist, gegenüber
dem, was erkünstelt und gemacht ist, mit einschließen muß. Wir glauben sicher,
daß Voriuskis Meinung dahin geht, aber damit sich jene akademische Kritik,
welche ohne alle Fühlung mit den lebendigen Quellen der Poesie bleibt, nicht
gelegentlich auf eine so gute Leistung berufen könne, wie die Borinskische ist,
Hütten wir eine schärfere Stellungnahme gegen Meister Opitz und seine Nach¬
fahren dennoch willkommen geheißen.

Sehr beachtenswert ist übrigens, was Borinski zur Entschuldigung unsrer
Poeten und Poetiker des siebzehnten Jahrhunderts beibringt, soweit es sich auf
die Geringschätzung und Mißachtung der Poesie in einem durchaus theologisch
gebildeten und zum Mißtrauen gegen alle ästhetische Erziehung und Empfindung
erzognen Geschlecht bezieht. Die Verkümmerung, welche hieraus hervorging, die
der ganzen Poesie den Stempel des Lehrhaften ausprägte, der Poetik ein be¬
stündiges Schielen nach außcrpoetischen Zwecken eingab, mag seither nicht genug
>n Anschlag gebracht worden sein. Jedenfalls stehen wir, und das sei in An¬
knüpfung an die einleitenden Sätze Borinskis gesagt, im Augenblicke in einer
ähnlichen Gefahr. Nur daß es heute keine theologische Einseitigkeit und keine
andächtige Stimmung sind, die zur Verachtung der Kunst führen und der Literatur
nur dann ein weiteres Lebcnsrecht zusprechen, wenn sie zuvor jedes künstlerische
Element von sich ausgeschieden haben wird.




Zur Charakteristik Turgenjews.

eit die Pessimistisch-naturalistische Schule in allen Literaturen
Vertreter und Einfluß gewonnen hat. ist der Name des größten
russischen Schriftstellers und Dichters der jüngsten Periode in
aller Munde. Turgenjew ist nicht bloß mehr ein eigentümlicher,
vielgelesener Novellist, der für uns Nichtrussen zugleich eine
^ffenbarnng jenes russischen Lebens und Fühlens war, das der Periode des


Grenzboten III. 1886. 70

sichten, gewisse Grundlagen der deutschen literarischen Kritik aus den Tagen
der von Borinski durchforschten und besprochenen Poetik stammen, so wird auch
er nicht in Abrede stellen wollen, daß zu einer „wirklich befriedigenden Ästhetik"
immer noch etwas andres gehört als die „Norm," welche die deutsche Re¬
naissance aus den Beispielen der Antike schöpfte. Um den Mißstand, daß alle
auf ihrem Wege gewonnenen Regeln in einem Kunstwerke befolgt sein können
und eben dies Werk dennoch völlig leblos sein kann, daß jeder dieser Regeln
(wie es bei Ariost geschieht) ins Gesicht geschlagen sein darf, aber wahre Poesie
und poetisches Leben vorhanden bleiben, ist eben doch nicht herumzukommen,
wenn nicht voraus- und hinzugesetzt wird, daß „die Macht des Beispiels" auch
die Fühlung für das, was lebendig und naturnotwendig gewachsen ist, gegenüber
dem, was erkünstelt und gemacht ist, mit einschließen muß. Wir glauben sicher,
daß Voriuskis Meinung dahin geht, aber damit sich jene akademische Kritik,
welche ohne alle Fühlung mit den lebendigen Quellen der Poesie bleibt, nicht
gelegentlich auf eine so gute Leistung berufen könne, wie die Borinskische ist,
Hütten wir eine schärfere Stellungnahme gegen Meister Opitz und seine Nach¬
fahren dennoch willkommen geheißen.

Sehr beachtenswert ist übrigens, was Borinski zur Entschuldigung unsrer
Poeten und Poetiker des siebzehnten Jahrhunderts beibringt, soweit es sich auf
die Geringschätzung und Mißachtung der Poesie in einem durchaus theologisch
gebildeten und zum Mißtrauen gegen alle ästhetische Erziehung und Empfindung
erzognen Geschlecht bezieht. Die Verkümmerung, welche hieraus hervorging, die
der ganzen Poesie den Stempel des Lehrhaften ausprägte, der Poetik ein be¬
stündiges Schielen nach außcrpoetischen Zwecken eingab, mag seither nicht genug
>n Anschlag gebracht worden sein. Jedenfalls stehen wir, und das sei in An¬
knüpfung an die einleitenden Sätze Borinskis gesagt, im Augenblicke in einer
ähnlichen Gefahr. Nur daß es heute keine theologische Einseitigkeit und keine
andächtige Stimmung sind, die zur Verachtung der Kunst führen und der Literatur
nur dann ein weiteres Lebcnsrecht zusprechen, wenn sie zuvor jedes künstlerische
Element von sich ausgeschieden haben wird.




Zur Charakteristik Turgenjews.

eit die Pessimistisch-naturalistische Schule in allen Literaturen
Vertreter und Einfluß gewonnen hat. ist der Name des größten
russischen Schriftstellers und Dichters der jüngsten Periode in
aller Munde. Turgenjew ist nicht bloß mehr ein eigentümlicher,
vielgelesener Novellist, der für uns Nichtrussen zugleich eine
^ffenbarnng jenes russischen Lebens und Fühlens war, das der Periode des


Grenzboten III. 1886. 70
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[0561] sichten, gewisse Grundlagen der deutschen literarischen Kritik aus den Tagen der von Borinski durchforschten und besprochenen Poetik stammen, so wird auch er nicht in Abrede stellen wollen, daß zu einer „wirklich befriedigenden Ästhetik" immer noch etwas andres gehört als die „Norm," welche die deutsche Re¬ naissance aus den Beispielen der Antike schöpfte. Um den Mißstand, daß alle auf ihrem Wege gewonnenen Regeln in einem Kunstwerke befolgt sein können und eben dies Werk dennoch völlig leblos sein kann, daß jeder dieser Regeln (wie es bei Ariost geschieht) ins Gesicht geschlagen sein darf, aber wahre Poesie und poetisches Leben vorhanden bleiben, ist eben doch nicht herumzukommen, wenn nicht voraus- und hinzugesetzt wird, daß „die Macht des Beispiels" auch die Fühlung für das, was lebendig und naturnotwendig gewachsen ist, gegenüber dem, was erkünstelt und gemacht ist, mit einschließen muß. Wir glauben sicher, daß Voriuskis Meinung dahin geht, aber damit sich jene akademische Kritik, welche ohne alle Fühlung mit den lebendigen Quellen der Poesie bleibt, nicht gelegentlich auf eine so gute Leistung berufen könne, wie die Borinskische ist, Hütten wir eine schärfere Stellungnahme gegen Meister Opitz und seine Nach¬ fahren dennoch willkommen geheißen. Sehr beachtenswert ist übrigens, was Borinski zur Entschuldigung unsrer Poeten und Poetiker des siebzehnten Jahrhunderts beibringt, soweit es sich auf die Geringschätzung und Mißachtung der Poesie in einem durchaus theologisch gebildeten und zum Mißtrauen gegen alle ästhetische Erziehung und Empfindung erzognen Geschlecht bezieht. Die Verkümmerung, welche hieraus hervorging, die der ganzen Poesie den Stempel des Lehrhaften ausprägte, der Poetik ein be¬ stündiges Schielen nach außcrpoetischen Zwecken eingab, mag seither nicht genug >n Anschlag gebracht worden sein. Jedenfalls stehen wir, und das sei in An¬ knüpfung an die einleitenden Sätze Borinskis gesagt, im Augenblicke in einer ähnlichen Gefahr. Nur daß es heute keine theologische Einseitigkeit und keine andächtige Stimmung sind, die zur Verachtung der Kunst führen und der Literatur nur dann ein weiteres Lebcnsrecht zusprechen, wenn sie zuvor jedes künstlerische Element von sich ausgeschieden haben wird. Zur Charakteristik Turgenjews. eit die Pessimistisch-naturalistische Schule in allen Literaturen Vertreter und Einfluß gewonnen hat. ist der Name des größten russischen Schriftstellers und Dichters der jüngsten Periode in aller Munde. Turgenjew ist nicht bloß mehr ein eigentümlicher, vielgelesener Novellist, der für uns Nichtrussen zugleich eine ^ffenbarnng jenes russischen Lebens und Fühlens war, das der Periode des Grenzboten III. 1886. 70

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/561>, abgerufen am 03.07.2024.