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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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ehernen Zaren Nikolaus entstammte; er ist einer der Hauptvertreter jener
Schule, für die das Prädikat der "Modernität" in ähnlicher Weise bean¬
sprucht wird, wie es seiner Zeit für die Autoren des jungen Deutschland
geschal,. Berthold Thorsch unternimmt es in einem sein geschriebenen, von aus¬
gebreiteter Kenntnis der Literatur und großem kritischen Talent zeugenden
Charakterbild,") des Näheren die Gründe nachzuweisen, ans denen Turgenjew
eine so gebietende Stellung einnehme und nicht nur für die Entwicklung der
russischen Literatur, sondern aller modernen Dichtung zu den maßgebenden und
mustergiltigen Schriftstellern gezählt werden müsse. Thorschs Ausführungen,
die, ganz abgesehen davon, ob wir uns mit der Grundanschauung des Kritikers
einverstanden erklären können oder nicht, klar, kräftig und von bemerkenswerter
Gerechtigkeit auch gegen anders als sein Held geartete Schriftsteller sind, gipfeln
etwa in folgende" Hauptsätzen. "Die russischen nationalen Dichter sehen keine
Rettung, aus ihren Werken spricht Haß gegen das Schlechte und die Lüge,
aber ein Haß, der sich ohnmächtig fühlt, tiefes Mitleid mit dem Edeln, das
durch ein unsinniges Schicksal bestimmt ist, zu leiden, aber ein Mitleid, das
hoffnungslos ist, und eine Bitterkeit, welche diesem unsinnigen Schicksale für
all dies wenigstens die andächtige Bewunderung verweigert, die demselben ander¬
wärts viel länger gezollt wird, die es vielmehr bei einem trotzigen und zugleich
melancholischen Gefühle der Hilflosigkeit diesem Schicksal gegenüber bewenden
läßt. Diese gewisse trotzige Resignation ist auch der vorherrschende Eindruck
von Turgenjews Dichtung." "Aus aller Dichtung der vergangnen Periode
springt stets das sittliche Problem hervor, und immer glaubt man aus derselben
jene Frage herauszuhören, deren Sinn und Bedeutung ewig wechselt: Wer ist
schuld? Die Modernen scheinen die Antwort gefunden zu haben auf diese
Frage, und sie lautet: Das Schicksal. Das Schicksal mit seiner Gleichgiltigkeit
gegen Ziel und Absicht des Menschen, mit seinem rohen Beiseiteschieben aller
Ideale, das Schicksal, das tückisch in des Menschen Innerstes hineingreift, ihn
gegen sich selber kehrt, sein Wollen verwirrt und es schuldlos ohnmächtig macht,
das Schicksal trägt die Schuld an Not und Elend dieser Welt; denn es durch-
kreuzt das Wollen des Menschen, es giebt ihm Gesetze, die er nicht versteht
und denen er sich dennoch fügen muß. Aber Turgenjew zeigt nicht (wie andre
absichtsvoll moderne Dichter) ein gewaltig brutales, sozusagen hassenswertes
Schicksal, das es darauf anlegen würde, den Menschen zu Grunde zu richten;
die beispiellose Naturwahrheit Turgenjews beruht vielmehr darin, daß die
Handlung, die er erzählt und gestaltet, sozusagen nicht ans Menschenhände
deutet. Das Schicksal ist bei ihm dem Menschen nicht feindlich und nicht
freundlich, es weiß nichts davon, wenn es ihn vernichtet, weiß nichts davon,



1 Iwan Turgenjew. Charakterbild eines modernen Dichters von Berthold
Thorsch. Leipzig, Franz Duncker, 188".

ehernen Zaren Nikolaus entstammte; er ist einer der Hauptvertreter jener
Schule, für die das Prädikat der „Modernität" in ähnlicher Weise bean¬
sprucht wird, wie es seiner Zeit für die Autoren des jungen Deutschland
geschal,. Berthold Thorsch unternimmt es in einem sein geschriebenen, von aus¬
gebreiteter Kenntnis der Literatur und großem kritischen Talent zeugenden
Charakterbild,") des Näheren die Gründe nachzuweisen, ans denen Turgenjew
eine so gebietende Stellung einnehme und nicht nur für die Entwicklung der
russischen Literatur, sondern aller modernen Dichtung zu den maßgebenden und
mustergiltigen Schriftstellern gezählt werden müsse. Thorschs Ausführungen,
die, ganz abgesehen davon, ob wir uns mit der Grundanschauung des Kritikers
einverstanden erklären können oder nicht, klar, kräftig und von bemerkenswerter
Gerechtigkeit auch gegen anders als sein Held geartete Schriftsteller sind, gipfeln
etwa in folgende» Hauptsätzen. „Die russischen nationalen Dichter sehen keine
Rettung, aus ihren Werken spricht Haß gegen das Schlechte und die Lüge,
aber ein Haß, der sich ohnmächtig fühlt, tiefes Mitleid mit dem Edeln, das
durch ein unsinniges Schicksal bestimmt ist, zu leiden, aber ein Mitleid, das
hoffnungslos ist, und eine Bitterkeit, welche diesem unsinnigen Schicksale für
all dies wenigstens die andächtige Bewunderung verweigert, die demselben ander¬
wärts viel länger gezollt wird, die es vielmehr bei einem trotzigen und zugleich
melancholischen Gefühle der Hilflosigkeit diesem Schicksal gegenüber bewenden
läßt. Diese gewisse trotzige Resignation ist auch der vorherrschende Eindruck
von Turgenjews Dichtung." „Aus aller Dichtung der vergangnen Periode
springt stets das sittliche Problem hervor, und immer glaubt man aus derselben
jene Frage herauszuhören, deren Sinn und Bedeutung ewig wechselt: Wer ist
schuld? Die Modernen scheinen die Antwort gefunden zu haben auf diese
Frage, und sie lautet: Das Schicksal. Das Schicksal mit seiner Gleichgiltigkeit
gegen Ziel und Absicht des Menschen, mit seinem rohen Beiseiteschieben aller
Ideale, das Schicksal, das tückisch in des Menschen Innerstes hineingreift, ihn
gegen sich selber kehrt, sein Wollen verwirrt und es schuldlos ohnmächtig macht,
das Schicksal trägt die Schuld an Not und Elend dieser Welt; denn es durch-
kreuzt das Wollen des Menschen, es giebt ihm Gesetze, die er nicht versteht
und denen er sich dennoch fügen muß. Aber Turgenjew zeigt nicht (wie andre
absichtsvoll moderne Dichter) ein gewaltig brutales, sozusagen hassenswertes
Schicksal, das es darauf anlegen würde, den Menschen zu Grunde zu richten;
die beispiellose Naturwahrheit Turgenjews beruht vielmehr darin, daß die
Handlung, die er erzählt und gestaltet, sozusagen nicht ans Menschenhände
deutet. Das Schicksal ist bei ihm dem Menschen nicht feindlich und nicht
freundlich, es weiß nichts davon, wenn es ihn vernichtet, weiß nichts davon,



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Thorsch. Leipzig, Franz Duncker, 188».
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[0562] ehernen Zaren Nikolaus entstammte; er ist einer der Hauptvertreter jener Schule, für die das Prädikat der „Modernität" in ähnlicher Weise bean¬ sprucht wird, wie es seiner Zeit für die Autoren des jungen Deutschland geschal,. Berthold Thorsch unternimmt es in einem sein geschriebenen, von aus¬ gebreiteter Kenntnis der Literatur und großem kritischen Talent zeugenden Charakterbild,") des Näheren die Gründe nachzuweisen, ans denen Turgenjew eine so gebietende Stellung einnehme und nicht nur für die Entwicklung der russischen Literatur, sondern aller modernen Dichtung zu den maßgebenden und mustergiltigen Schriftstellern gezählt werden müsse. Thorschs Ausführungen, die, ganz abgesehen davon, ob wir uns mit der Grundanschauung des Kritikers einverstanden erklären können oder nicht, klar, kräftig und von bemerkenswerter Gerechtigkeit auch gegen anders als sein Held geartete Schriftsteller sind, gipfeln etwa in folgende» Hauptsätzen. „Die russischen nationalen Dichter sehen keine Rettung, aus ihren Werken spricht Haß gegen das Schlechte und die Lüge, aber ein Haß, der sich ohnmächtig fühlt, tiefes Mitleid mit dem Edeln, das durch ein unsinniges Schicksal bestimmt ist, zu leiden, aber ein Mitleid, das hoffnungslos ist, und eine Bitterkeit, welche diesem unsinnigen Schicksale für all dies wenigstens die andächtige Bewunderung verweigert, die demselben ander¬ wärts viel länger gezollt wird, die es vielmehr bei einem trotzigen und zugleich melancholischen Gefühle der Hilflosigkeit diesem Schicksal gegenüber bewenden läßt. Diese gewisse trotzige Resignation ist auch der vorherrschende Eindruck von Turgenjews Dichtung." „Aus aller Dichtung der vergangnen Periode springt stets das sittliche Problem hervor, und immer glaubt man aus derselben jene Frage herauszuhören, deren Sinn und Bedeutung ewig wechselt: Wer ist schuld? Die Modernen scheinen die Antwort gefunden zu haben auf diese Frage, und sie lautet: Das Schicksal. Das Schicksal mit seiner Gleichgiltigkeit gegen Ziel und Absicht des Menschen, mit seinem rohen Beiseiteschieben aller Ideale, das Schicksal, das tückisch in des Menschen Innerstes hineingreift, ihn gegen sich selber kehrt, sein Wollen verwirrt und es schuldlos ohnmächtig macht, das Schicksal trägt die Schuld an Not und Elend dieser Welt; denn es durch- kreuzt das Wollen des Menschen, es giebt ihm Gesetze, die er nicht versteht und denen er sich dennoch fügen muß. Aber Turgenjew zeigt nicht (wie andre absichtsvoll moderne Dichter) ein gewaltig brutales, sozusagen hassenswertes Schicksal, das es darauf anlegen würde, den Menschen zu Grunde zu richten; die beispiellose Naturwahrheit Turgenjews beruht vielmehr darin, daß die Handlung, die er erzählt und gestaltet, sozusagen nicht ans Menschenhände deutet. Das Schicksal ist bei ihm dem Menschen nicht feindlich und nicht freundlich, es weiß nichts davon, wenn es ihn vernichtet, weiß nichts davon, 1 Iwan Turgenjew. Charakterbild eines modernen Dichters von Berthold Thorsch. Leipzig, Franz Duncker, 188».

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/562>, abgerufen am 22.07.2024.