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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Rußlands Finanzen und die Entwertung seiner Valuta.

3.

Die Entwertung des russischen Papiers findet ihre genügende Erklärung
in der Krankhaftigkeit des dortigen Geldsystems. Sie ist auch nicht die Folge
der Auswanderung des Metallgeldes, sondern die Ursache desselben. In dieser
Hinsicht besteht ein bemerkenswerter, im Publikum oft nicht hinreichend be¬
achteter Unterschied zwischen Papiergeld und Banknote. Die Vermehrung des
Notenumlaufs ist die Wirkung der Preissteigerung und der dadurch vergrößerten
Nachfrage nach Umlaufsmittcln; die Vermehrung des Staatspapiergeldes aber
ist die Ursache dieses Vorganges. Die Notenausgabe führt daher auch das
Metallgeld zum größten Teile in die Baarbcstände der Banken und nur, soweit
es als Deckung nicht gebraucht wird, ins Ausland; das uncinlösbarc Papier¬
geld aber drängt die Münze direkt über die Grenze. Obwohl nun die Kredit¬
billets in ihrer leidigen Zwitterhaftigkeit auch den Charakter der Banknoten fest¬
hielten, traten doch mit der zunehmenden Erhöhung der Umlaufsziffer mehr und
mehr die Nachteile des "eigentlichen" Papiergeldes hervor. Aus dieser Doppel¬
natur, nicht aus der Vermehrung an sich, entsprang der finanzielle Notstand.
Denn in Frankreich hat im Jahre 1871 das Mißverhältnis zwischen Noten-
"utans und Metallvorrat ganz ähnliche Ausdehnungen angenommen, ohne den
Wert der Note zu beeinträchtigen.

Daß die Grenzlinie des Papicrgeldbednrfnisses im Laufe der Zeit übel>
schritten war, ist zweifellos, diese Linie aber genau festzustellen und einen
Maximalsatz für die Emission anzugeben, mochte in Nußland schwieriger sein als
in andern Ländern. Bei der ungeheuern Ausdehnung des Reiches und der
dnrch die migenügenden Verkehrsmittel bewirkten Langsamkeit der Umsätze konnte
die Summe der Umlaufszcichen eine ziemlich hohe Ziffer erreichen, ehe ein ge¬
sundes Maß überschritten war. Man hat früher angenommen, daß Rußland
unter normalen Verhältnissen etwa 300 Millionen Kreditbilletc ausgeben
könnte. Heutzutage bei den verbesserten Verkehrsverhältnissen des Reiches
könnte diese Ziffer bei sonst gesunder Finanzlage wesentlich höher sein. In
Frankreich z. B. zirkulirteu im Jahre 1859 -- während der russische Finanz¬
ausweis den Papiergeldumlauf mit 644 Millionen angab -- in gemünzten
Gelde und Banknoten 4600 Millionen Franks 1150 Millionen Rubel Silber,
d. h. bei einer Bevölkerung von 36 Millionen Einwohnern etwa 32 Rubel
auf den Kopf. Nach diesem Verhältnis hätte damals Rußland für seine 66
Millionen Einwohner etwa 2080 Millionen Rubel, also das Dreifache des
wirklichen Betrages, im Umlauf haben können, wenn die Entwicklung der
Verkehrsmittel und der Kultur überhaupt in beiden Ländern die gleiche wäre.
Es ist aber, selbst wenn man dem bestehenden Unterschiede und vor allem der
geringern Produktion Rußlands Rechnung trägt, noch keineswegs erwiesen, daß
das damals bestehende Verhältnis des umlaufenden Papiergeldes zur Bevölkerung
von etwa 10 Rubel für den Kopf die Entwertung der Valuta herbeigeführt


Rußlands Finanzen und die Entwertung seiner Valuta.

3.

Die Entwertung des russischen Papiers findet ihre genügende Erklärung
in der Krankhaftigkeit des dortigen Geldsystems. Sie ist auch nicht die Folge
der Auswanderung des Metallgeldes, sondern die Ursache desselben. In dieser
Hinsicht besteht ein bemerkenswerter, im Publikum oft nicht hinreichend be¬
achteter Unterschied zwischen Papiergeld und Banknote. Die Vermehrung des
Notenumlaufs ist die Wirkung der Preissteigerung und der dadurch vergrößerten
Nachfrage nach Umlaufsmittcln; die Vermehrung des Staatspapiergeldes aber
ist die Ursache dieses Vorganges. Die Notenausgabe führt daher auch das
Metallgeld zum größten Teile in die Baarbcstände der Banken und nur, soweit
es als Deckung nicht gebraucht wird, ins Ausland; das uncinlösbarc Papier¬
geld aber drängt die Münze direkt über die Grenze. Obwohl nun die Kredit¬
billets in ihrer leidigen Zwitterhaftigkeit auch den Charakter der Banknoten fest¬
hielten, traten doch mit der zunehmenden Erhöhung der Umlaufsziffer mehr und
mehr die Nachteile des „eigentlichen" Papiergeldes hervor. Aus dieser Doppel¬
natur, nicht aus der Vermehrung an sich, entsprang der finanzielle Notstand.
Denn in Frankreich hat im Jahre 1871 das Mißverhältnis zwischen Noten-
»utans und Metallvorrat ganz ähnliche Ausdehnungen angenommen, ohne den
Wert der Note zu beeinträchtigen.

Daß die Grenzlinie des Papicrgeldbednrfnisses im Laufe der Zeit übel>
schritten war, ist zweifellos, diese Linie aber genau festzustellen und einen
Maximalsatz für die Emission anzugeben, mochte in Nußland schwieriger sein als
in andern Ländern. Bei der ungeheuern Ausdehnung des Reiches und der
dnrch die migenügenden Verkehrsmittel bewirkten Langsamkeit der Umsätze konnte
die Summe der Umlaufszcichen eine ziemlich hohe Ziffer erreichen, ehe ein ge¬
sundes Maß überschritten war. Man hat früher angenommen, daß Rußland
unter normalen Verhältnissen etwa 300 Millionen Kreditbilletc ausgeben
könnte. Heutzutage bei den verbesserten Verkehrsverhältnissen des Reiches
könnte diese Ziffer bei sonst gesunder Finanzlage wesentlich höher sein. In
Frankreich z. B. zirkulirteu im Jahre 1859 — während der russische Finanz¬
ausweis den Papiergeldumlauf mit 644 Millionen angab — in gemünzten
Gelde und Banknoten 4600 Millionen Franks 1150 Millionen Rubel Silber,
d. h. bei einer Bevölkerung von 36 Millionen Einwohnern etwa 32 Rubel
auf den Kopf. Nach diesem Verhältnis hätte damals Rußland für seine 66
Millionen Einwohner etwa 2080 Millionen Rubel, also das Dreifache des
wirklichen Betrages, im Umlauf haben können, wenn die Entwicklung der
Verkehrsmittel und der Kultur überhaupt in beiden Ländern die gleiche wäre.
Es ist aber, selbst wenn man dem bestehenden Unterschiede und vor allem der
geringern Produktion Rußlands Rechnung trägt, noch keineswegs erwiesen, daß
das damals bestehende Verhältnis des umlaufenden Papiergeldes zur Bevölkerung
von etwa 10 Rubel für den Kopf die Entwertung der Valuta herbeigeführt


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[0515] Rußlands Finanzen und die Entwertung seiner Valuta. 3. Die Entwertung des russischen Papiers findet ihre genügende Erklärung in der Krankhaftigkeit des dortigen Geldsystems. Sie ist auch nicht die Folge der Auswanderung des Metallgeldes, sondern die Ursache desselben. In dieser Hinsicht besteht ein bemerkenswerter, im Publikum oft nicht hinreichend be¬ achteter Unterschied zwischen Papiergeld und Banknote. Die Vermehrung des Notenumlaufs ist die Wirkung der Preissteigerung und der dadurch vergrößerten Nachfrage nach Umlaufsmittcln; die Vermehrung des Staatspapiergeldes aber ist die Ursache dieses Vorganges. Die Notenausgabe führt daher auch das Metallgeld zum größten Teile in die Baarbcstände der Banken und nur, soweit es als Deckung nicht gebraucht wird, ins Ausland; das uncinlösbarc Papier¬ geld aber drängt die Münze direkt über die Grenze. Obwohl nun die Kredit¬ billets in ihrer leidigen Zwitterhaftigkeit auch den Charakter der Banknoten fest¬ hielten, traten doch mit der zunehmenden Erhöhung der Umlaufsziffer mehr und mehr die Nachteile des „eigentlichen" Papiergeldes hervor. Aus dieser Doppel¬ natur, nicht aus der Vermehrung an sich, entsprang der finanzielle Notstand. Denn in Frankreich hat im Jahre 1871 das Mißverhältnis zwischen Noten- »utans und Metallvorrat ganz ähnliche Ausdehnungen angenommen, ohne den Wert der Note zu beeinträchtigen. Daß die Grenzlinie des Papicrgeldbednrfnisses im Laufe der Zeit übel> schritten war, ist zweifellos, diese Linie aber genau festzustellen und einen Maximalsatz für die Emission anzugeben, mochte in Nußland schwieriger sein als in andern Ländern. Bei der ungeheuern Ausdehnung des Reiches und der dnrch die migenügenden Verkehrsmittel bewirkten Langsamkeit der Umsätze konnte die Summe der Umlaufszcichen eine ziemlich hohe Ziffer erreichen, ehe ein ge¬ sundes Maß überschritten war. Man hat früher angenommen, daß Rußland unter normalen Verhältnissen etwa 300 Millionen Kreditbilletc ausgeben könnte. Heutzutage bei den verbesserten Verkehrsverhältnissen des Reiches könnte diese Ziffer bei sonst gesunder Finanzlage wesentlich höher sein. In Frankreich z. B. zirkulirteu im Jahre 1859 — während der russische Finanz¬ ausweis den Papiergeldumlauf mit 644 Millionen angab — in gemünzten Gelde und Banknoten 4600 Millionen Franks 1150 Millionen Rubel Silber, d. h. bei einer Bevölkerung von 36 Millionen Einwohnern etwa 32 Rubel auf den Kopf. Nach diesem Verhältnis hätte damals Rußland für seine 66 Millionen Einwohner etwa 2080 Millionen Rubel, also das Dreifache des wirklichen Betrages, im Umlauf haben können, wenn die Entwicklung der Verkehrsmittel und der Kultur überhaupt in beiden Ländern die gleiche wäre. Es ist aber, selbst wenn man dem bestehenden Unterschiede und vor allem der geringern Produktion Rußlands Rechnung trägt, noch keineswegs erwiesen, daß das damals bestehende Verhältnis des umlaufenden Papiergeldes zur Bevölkerung von etwa 10 Rubel für den Kopf die Entwertung der Valuta herbeigeführt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/515>, abgerufen am 27.06.2024.