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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Ludwig Wiese und seine Amtserfahrungen.

eilen erscheinen Bücher, die der Teilnahme in den höhern Kreisen
der Gesellschaft so sicher sein können wie das vorliegende.*)
Der Verfasser, der seit zehn Jahren in hohem, aber rüstigem
Alter nach angestrengter, reicher Arbeit seine Muße in Potsdam
genießt, hat vierundzwanzig Jahre lang vier aufeinander folgende
Kultusminister beraten in Sachen der Gymnasien und andrer höherer Schulen
in Preußen; auch die übrigen deutschen Staaten und Elsaß-Lothringen haben
seine Erfahrungen vielfach benutzt. Nun kann zwar der Laie in der Pädagogik
einen Angenblick meinen, daß eine solche, wenn auch noch so hochstehende
Thätigkeit als vortragender Rat im Kultusministerium doch nur eine fach¬
männische Bedeutung habe. Aber bei einigem Nachdenken kann er doch erkennen,
daß die höhern Schulen bei uns in Preußen (und nicht allein in Preußen) eine
hervorragende öffentliche, politische Bedeutung haben, und daß wenigstens jede
neue Strömung in der Politik sofort bemüht ist, auch die Richtung der höhern
Schulen zu bestimmen. Schon der Selbsterhaltung wegen sucht sie zu ver¬
hindern, daß die künftigen Leiter der politischen Gesellschaft in Ideen heran¬
wachsen, die dein neuen Ideal der Gesellschaft nicht entsprechen. Man kann
das beklagen, aber es ist so und ist immer so gewesen; selbst in den Kloster-
schulen spiegelte sich der Geist der wechselnden Zeit.

Es begreift sich dabei wohl, daß sich der Unmut über einen Kultusminister,
wie z. B. von Raumer, zuweilen weniger gegen den Minister selbst richtete,
als vielmehr gegen seinen ersten technischen Berater; so war der Geheimrat
sticht als Vater der "Regulative" viel verhaßter als sein Chef. Er hatte
nichts gethan, als daß er auf Befehl seines Chefs das Volksschnl-, Prn'paranden-
und Seminarwescn in eine keineswegs neue, sondern wohlbekannte evangelisch-
christliche Form gebracht hatte. Der Inhalt der Regulative ließ sich recht gut
verteidigen, der Ausdruck aber war geschmacklos und schroff und beleidigte jede
freiere Gesinnung. Zwar hatte der Minister das Ganze auf sich zu nehmen,
aber das Volk setzte sich über diese konstitutionelle Theorie hinweg und haßte
instinktiv jenen vortragenden Rat, der es freilich durch die Art seiner spätern
Selbstverteidigung und den Abend seines Lebens schwer gemacht hat, ihm
Sympathie zu widmen. So ist es nicht zu verwundern, daß in ähnlicher Weise
anch der Ministerialrat I)r. Wiese eine Zeit lang mit zu leiden hatte, wenn



Lebenserinnerungen und Amtserfahrung en von L, Wiese, Wir".
Geh. Ober-Regierungsrat a. D. 2 Bände. Berlin, Wicgandt und Grieben, 1386.
Ludwig Wiese und seine Amtserfahrungen.

eilen erscheinen Bücher, die der Teilnahme in den höhern Kreisen
der Gesellschaft so sicher sein können wie das vorliegende.*)
Der Verfasser, der seit zehn Jahren in hohem, aber rüstigem
Alter nach angestrengter, reicher Arbeit seine Muße in Potsdam
genießt, hat vierundzwanzig Jahre lang vier aufeinander folgende
Kultusminister beraten in Sachen der Gymnasien und andrer höherer Schulen
in Preußen; auch die übrigen deutschen Staaten und Elsaß-Lothringen haben
seine Erfahrungen vielfach benutzt. Nun kann zwar der Laie in der Pädagogik
einen Angenblick meinen, daß eine solche, wenn auch noch so hochstehende
Thätigkeit als vortragender Rat im Kultusministerium doch nur eine fach¬
männische Bedeutung habe. Aber bei einigem Nachdenken kann er doch erkennen,
daß die höhern Schulen bei uns in Preußen (und nicht allein in Preußen) eine
hervorragende öffentliche, politische Bedeutung haben, und daß wenigstens jede
neue Strömung in der Politik sofort bemüht ist, auch die Richtung der höhern
Schulen zu bestimmen. Schon der Selbsterhaltung wegen sucht sie zu ver¬
hindern, daß die künftigen Leiter der politischen Gesellschaft in Ideen heran¬
wachsen, die dein neuen Ideal der Gesellschaft nicht entsprechen. Man kann
das beklagen, aber es ist so und ist immer so gewesen; selbst in den Kloster-
schulen spiegelte sich der Geist der wechselnden Zeit.

Es begreift sich dabei wohl, daß sich der Unmut über einen Kultusminister,
wie z. B. von Raumer, zuweilen weniger gegen den Minister selbst richtete,
als vielmehr gegen seinen ersten technischen Berater; so war der Geheimrat
sticht als Vater der „Regulative" viel verhaßter als sein Chef. Er hatte
nichts gethan, als daß er auf Befehl seines Chefs das Volksschnl-, Prn'paranden-
und Seminarwescn in eine keineswegs neue, sondern wohlbekannte evangelisch-
christliche Form gebracht hatte. Der Inhalt der Regulative ließ sich recht gut
verteidigen, der Ausdruck aber war geschmacklos und schroff und beleidigte jede
freiere Gesinnung. Zwar hatte der Minister das Ganze auf sich zu nehmen,
aber das Volk setzte sich über diese konstitutionelle Theorie hinweg und haßte
instinktiv jenen vortragenden Rat, der es freilich durch die Art seiner spätern
Selbstverteidigung und den Abend seines Lebens schwer gemacht hat, ihm
Sympathie zu widmen. So ist es nicht zu verwundern, daß in ähnlicher Weise
anch der Ministerialrat I)r. Wiese eine Zeit lang mit zu leiden hatte, wenn



Lebenserinnerungen und Amtserfahrung en von L, Wiese, Wir«.
Geh. Ober-Regierungsrat a. D. 2 Bände. Berlin, Wicgandt und Grieben, 1386.
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[0381] Ludwig Wiese und seine Amtserfahrungen. eilen erscheinen Bücher, die der Teilnahme in den höhern Kreisen der Gesellschaft so sicher sein können wie das vorliegende.*) Der Verfasser, der seit zehn Jahren in hohem, aber rüstigem Alter nach angestrengter, reicher Arbeit seine Muße in Potsdam genießt, hat vierundzwanzig Jahre lang vier aufeinander folgende Kultusminister beraten in Sachen der Gymnasien und andrer höherer Schulen in Preußen; auch die übrigen deutschen Staaten und Elsaß-Lothringen haben seine Erfahrungen vielfach benutzt. Nun kann zwar der Laie in der Pädagogik einen Angenblick meinen, daß eine solche, wenn auch noch so hochstehende Thätigkeit als vortragender Rat im Kultusministerium doch nur eine fach¬ männische Bedeutung habe. Aber bei einigem Nachdenken kann er doch erkennen, daß die höhern Schulen bei uns in Preußen (und nicht allein in Preußen) eine hervorragende öffentliche, politische Bedeutung haben, und daß wenigstens jede neue Strömung in der Politik sofort bemüht ist, auch die Richtung der höhern Schulen zu bestimmen. Schon der Selbsterhaltung wegen sucht sie zu ver¬ hindern, daß die künftigen Leiter der politischen Gesellschaft in Ideen heran¬ wachsen, die dein neuen Ideal der Gesellschaft nicht entsprechen. Man kann das beklagen, aber es ist so und ist immer so gewesen; selbst in den Kloster- schulen spiegelte sich der Geist der wechselnden Zeit. Es begreift sich dabei wohl, daß sich der Unmut über einen Kultusminister, wie z. B. von Raumer, zuweilen weniger gegen den Minister selbst richtete, als vielmehr gegen seinen ersten technischen Berater; so war der Geheimrat sticht als Vater der „Regulative" viel verhaßter als sein Chef. Er hatte nichts gethan, als daß er auf Befehl seines Chefs das Volksschnl-, Prn'paranden- und Seminarwescn in eine keineswegs neue, sondern wohlbekannte evangelisch- christliche Form gebracht hatte. Der Inhalt der Regulative ließ sich recht gut verteidigen, der Ausdruck aber war geschmacklos und schroff und beleidigte jede freiere Gesinnung. Zwar hatte der Minister das Ganze auf sich zu nehmen, aber das Volk setzte sich über diese konstitutionelle Theorie hinweg und haßte instinktiv jenen vortragenden Rat, der es freilich durch die Art seiner spätern Selbstverteidigung und den Abend seines Lebens schwer gemacht hat, ihm Sympathie zu widmen. So ist es nicht zu verwundern, daß in ähnlicher Weise anch der Ministerialrat I)r. Wiese eine Zeit lang mit zu leiden hatte, wenn Lebenserinnerungen und Amtserfahrung en von L, Wiese, Wir«. Geh. Ober-Regierungsrat a. D. 2 Bände. Berlin, Wicgandt und Grieben, 1386.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/381>, abgerufen am 27.06.2024.