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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die naturalistische Schule in Deutschland.

deutschen Protestanten, welche dem Restitutionsedikte widerstreben, Richelieu,
welcher jeden Feind Österreichs unter seinen Schutz nimmt, die schlauen Kauf¬
herren von San Marco, Urban VIII. selbst -- alle kämpfen gegen einen und den¬
selben gewaltigen Feind politischer und religiöser Freiheit; jeder freilich ist von
besondern Motiven beherrscht. Was in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahr¬
hunderts die "Monarchie" Ludwigs XIV. in Europa war, das war in der
ersten die "Monarchie" der Casa d'Austria. Für uns Deutsche ist es wahrhaft
herzzerreißend, daß der westfälische Friede, welcher uns das Elsaß, halb Pommern
und die Lande an Weser- und Elbmündung kostete, doch wieder insofern er¬
freulich ist, als er das reaktionäre spanisch-deutsche Weltsystem unter Schutt
und Trümmern begrub. Es ist abermals der Fluch der Kaiserwahl von 1619,
dessen Folgen darin zu Tage treten, daß ein Tag nationalen Unglückes doch
wieder als ein Tag der Befreiung hat empfunden werden müssen.


G. Lgelhaaf.


Die naturalistische schule in Deutschland.
2. (Schluß.)

MM'D^,AM
EZM^inen weit bedeutenderen Anlauf zur Darstellung und energischen
Charakteristik eines scharf beobachteten heimatlichen Lebenskreises
nehmen die "Totentanz der Liebe" überschricbncn Münchner No¬
vellen Conrads. Gewiß ist die bniriscyc Hauptstadt eine der
Stüdteiudividnalitüteu, welche es lohnt, in ihren Höhen und
Tiefen, mit den eigentümliche!? Doppelwirkungen ihrer ursprünglichen bajuva-
risch-katholischen und ihrer in diesem Jahrhundert erworbnen Kultur, mit dem
widerspruchsvollen Gemisch ihrer Gesellschaft aufzufassen. Wie billig entwirft
Conrad kein Städtebild, und doch steht uns Nong-ello N01rnollorv.rü in ziemlicher
Deutlichkeit vor Augen: die Besonderheit von Altmüncheu springt uns aus den
wenigen schildernden Linien der Erzählung "Die goldne Schmiede," die von
Ncumüuchen ans der Novelle "Marianna," den Malergesprächeu in der "Mai¬
fahrt" und dem Nachtstück "Schicksal" entgegen. Daß die Menschenschicksale und
Menschengestalten im Vordergründe stehen und der Verfasser sich jenes Übermaß
der Terrainbeschreibung spart, in dem sein französischer Meister schwelgt, wird
ihm im Ernst niemand zum Vorwurf macheu. Aber die Frage: Welche Ge¬
stalten, welche Schicksale sind es, für die Conrad unsre Teilnahme, unser
Verständnis fordert? muß trotz des Lobes, welches jeder energischen, straff auf


Grenzboten II. 188". 23
Die naturalistische Schule in Deutschland.

deutschen Protestanten, welche dem Restitutionsedikte widerstreben, Richelieu,
welcher jeden Feind Österreichs unter seinen Schutz nimmt, die schlauen Kauf¬
herren von San Marco, Urban VIII. selbst — alle kämpfen gegen einen und den¬
selben gewaltigen Feind politischer und religiöser Freiheit; jeder freilich ist von
besondern Motiven beherrscht. Was in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahr¬
hunderts die „Monarchie" Ludwigs XIV. in Europa war, das war in der
ersten die „Monarchie" der Casa d'Austria. Für uns Deutsche ist es wahrhaft
herzzerreißend, daß der westfälische Friede, welcher uns das Elsaß, halb Pommern
und die Lande an Weser- und Elbmündung kostete, doch wieder insofern er¬
freulich ist, als er das reaktionäre spanisch-deutsche Weltsystem unter Schutt
und Trümmern begrub. Es ist abermals der Fluch der Kaiserwahl von 1619,
dessen Folgen darin zu Tage treten, daß ein Tag nationalen Unglückes doch
wieder als ein Tag der Befreiung hat empfunden werden müssen.


G. Lgelhaaf.


Die naturalistische schule in Deutschland.
2. (Schluß.)

MM'D^,AM
EZM^inen weit bedeutenderen Anlauf zur Darstellung und energischen
Charakteristik eines scharf beobachteten heimatlichen Lebenskreises
nehmen die „Totentanz der Liebe" überschricbncn Münchner No¬
vellen Conrads. Gewiß ist die bniriscyc Hauptstadt eine der
Stüdteiudividnalitüteu, welche es lohnt, in ihren Höhen und
Tiefen, mit den eigentümliche!? Doppelwirkungen ihrer ursprünglichen bajuva-
risch-katholischen und ihrer in diesem Jahrhundert erworbnen Kultur, mit dem
widerspruchsvollen Gemisch ihrer Gesellschaft aufzufassen. Wie billig entwirft
Conrad kein Städtebild, und doch steht uns Nong-ello N01rnollorv.rü in ziemlicher
Deutlichkeit vor Augen: die Besonderheit von Altmüncheu springt uns aus den
wenigen schildernden Linien der Erzählung „Die goldne Schmiede," die von
Ncumüuchen ans der Novelle „Marianna," den Malergesprächeu in der „Mai¬
fahrt" und dem Nachtstück „Schicksal" entgegen. Daß die Menschenschicksale und
Menschengestalten im Vordergründe stehen und der Verfasser sich jenes Übermaß
der Terrainbeschreibung spart, in dem sein französischer Meister schwelgt, wird
ihm im Ernst niemand zum Vorwurf macheu. Aber die Frage: Welche Ge¬
stalten, welche Schicksale sind es, für die Conrad unsre Teilnahme, unser
Verständnis fordert? muß trotz des Lobes, welches jeder energischen, straff auf


Grenzboten II. 188». 23
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[0185] Die naturalistische Schule in Deutschland. deutschen Protestanten, welche dem Restitutionsedikte widerstreben, Richelieu, welcher jeden Feind Österreichs unter seinen Schutz nimmt, die schlauen Kauf¬ herren von San Marco, Urban VIII. selbst — alle kämpfen gegen einen und den¬ selben gewaltigen Feind politischer und religiöser Freiheit; jeder freilich ist von besondern Motiven beherrscht. Was in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahr¬ hunderts die „Monarchie" Ludwigs XIV. in Europa war, das war in der ersten die „Monarchie" der Casa d'Austria. Für uns Deutsche ist es wahrhaft herzzerreißend, daß der westfälische Friede, welcher uns das Elsaß, halb Pommern und die Lande an Weser- und Elbmündung kostete, doch wieder insofern er¬ freulich ist, als er das reaktionäre spanisch-deutsche Weltsystem unter Schutt und Trümmern begrub. Es ist abermals der Fluch der Kaiserwahl von 1619, dessen Folgen darin zu Tage treten, daß ein Tag nationalen Unglückes doch wieder als ein Tag der Befreiung hat empfunden werden müssen. G. Lgelhaaf. Die naturalistische schule in Deutschland. 2. (Schluß.) MM'D^,AM EZM^inen weit bedeutenderen Anlauf zur Darstellung und energischen Charakteristik eines scharf beobachteten heimatlichen Lebenskreises nehmen die „Totentanz der Liebe" überschricbncn Münchner No¬ vellen Conrads. Gewiß ist die bniriscyc Hauptstadt eine der Stüdteiudividnalitüteu, welche es lohnt, in ihren Höhen und Tiefen, mit den eigentümliche!? Doppelwirkungen ihrer ursprünglichen bajuva- risch-katholischen und ihrer in diesem Jahrhundert erworbnen Kultur, mit dem widerspruchsvollen Gemisch ihrer Gesellschaft aufzufassen. Wie billig entwirft Conrad kein Städtebild, und doch steht uns Nong-ello N01rnollorv.rü in ziemlicher Deutlichkeit vor Augen: die Besonderheit von Altmüncheu springt uns aus den wenigen schildernden Linien der Erzählung „Die goldne Schmiede," die von Ncumüuchen ans der Novelle „Marianna," den Malergesprächeu in der „Mai¬ fahrt" und dem Nachtstück „Schicksal" entgegen. Daß die Menschenschicksale und Menschengestalten im Vordergründe stehen und der Verfasser sich jenes Übermaß der Terrainbeschreibung spart, in dem sein französischer Meister schwelgt, wird ihm im Ernst niemand zum Vorwurf macheu. Aber die Frage: Welche Ge¬ stalten, welche Schicksale sind es, für die Conrad unsre Teilnahme, unser Verständnis fordert? muß trotz des Lobes, welches jeder energischen, straff auf Grenzboten II. 188». 23

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/185>, abgerufen am 27.06.2024.