Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.Auf dem Stilfser Joch. Liftes Kapitel. Abgesehen von dieser Unterredung, hatte Harald nicht nötig gehabt, die Die Betäubung, in welche ihn der Verlust Vronis versetzt hatte, war allmäh¬ In den ersten Tagen nach jener Katastrophe war ihm wohl auch der Ge¬ Einen Verkehr hatte er seit seiner Wiederankunft in Berlin nicht angebahnt, Auf dem Stilfser Joch. Liftes Kapitel. Abgesehen von dieser Unterredung, hatte Harald nicht nötig gehabt, die Die Betäubung, in welche ihn der Verlust Vronis versetzt hatte, war allmäh¬ In den ersten Tagen nach jener Katastrophe war ihm wohl auch der Ge¬ Einen Verkehr hatte er seit seiner Wiederankunft in Berlin nicht angebahnt, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0458" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197192"/> <fw type="header" place="top"> Auf dem Stilfser Joch.</fw><lb/> </div> <div n="2"> <head> Liftes Kapitel.</head><lb/> <p xml:id="ID_1467"> Abgesehen von dieser Unterredung, hatte Harald nicht nötig gehabt, die<lb/> Flucht Vronis im Gespräche mit irgend jemand zu berühren; denn wenn ihn<lb/> die Notwendigkeit nicht zwang, verließ er seine Wohnung nicht.</p><lb/> <p xml:id="ID_1468"> Die Betäubung, in welche ihn der Verlust Vronis versetzt hatte, war allmäh¬<lb/> lich einer tiefen Erschlaffung gewichen und hatte seinem Gemüte eine Ruhe ge¬<lb/> geben, welche freilich nicht die des natürlichen Friedens war. Wer mitten im<lb/> Glück von einem schweren Schicksalsschläge heimgesucht wird, darf hoffen, sich auch<lb/> wieder emporzuraffen; die noch ungebrochenen Kräfte besitzen noch die Wider¬<lb/> standsfähigkeit, um die Herrschaft über sich selbst zurückerobern zu können; eine<lb/> befreiende That in der Arbeit vermag das beschwerte Herz wieder zu erleichtern.<lb/> Anders, wenn eine schwere Prüfung des Schicksals einen Mann heimsucht, der<lb/> bereits seit Jcchreu dem Fatum zu Experimenten hat dienen müssen, der gleichsam<lb/> dem Geschick ein Versuchsfeld für die Vivisektionen seines Gemüts dargeboten hat,<lb/> der chronisch an den Heimsuchungen der Gottheit leidet. Einem solchen Manne<lb/> sind die physischen und moralischen Kräfte, welche geeignet sind, den sinkenden<lb/> Mut aufs neue zu beleben, geschwunden; an Stelle der Widerstandsfähigkeit tritt<lb/> eine gleichgültige Lethargie; er wird zur wandelnden Leiche. Das war der Zu¬<lb/> stand Haralds. Für ihn war jedes Interesse für die Welt und jede Beziehung<lb/> zu ihr geschwunden; kein Ton drang mehr von außen in sein Herz, um dort<lb/> einen Wiederhall zu finden. Der Untergang der Welt hätte ihn zwar nach<lb/> des Dichters Wort furchtlos getroffen, iinxiivicwro k«zrisrck ruinas, aber es wäre<lb/> nicht die Furchtlosigkeit eines mutigen, sondern eines für alle Regungen abge¬<lb/> storbenen Herzens gewesen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1469"> In den ersten Tagen nach jener Katastrophe war ihm wohl auch der Ge¬<lb/> danke gekommen, ob es nicht besser sei, sich von der Last des Lebens ganz zu<lb/> befreien; allein auch dies schien ihm interesselos. Was hatte er noch zu fürchten<lb/> oder zu hoffen? Für ihn war der Tod ebenso gleichgültig wie das Leben. Auch<lb/> hatte er das Gefühl der Pflichterfüllung noch nicht ganz verloren; so wie der<lb/> elektrische Strom noch eine Zeit lang in dem toten Kadaver nachwirkt und ihn<lb/> zu mechanischen Bewegungen veranlaßt, so wirkte der Umstand, daß die Sorge<lb/> um den Bruder nicht geschlossen sei, doch noch bewegend ans den todmüden<lb/> Mann ein. Ja dieser Gedanke war imstande, ihm einen neuen Ausschwung zur<lb/> Thätigkeit zu geben. Er empfand es als eine drückende Unfreiheit, daß über¬<lb/> haupt noch etwas existire, das ihn mit den Geschicken der Menschheit verknüpfe,<lb/> daß er nicht alles auf einmal abstreifen könne, sondern daß immer noch etwas<lb/> vorhanden sei, das durch seinen Druck das Gewissen belaste. Und die Vor¬<lb/> stellung, wie er sich von dieser letzten Kette befreien könnte, regte ihn immer<lb/> lebhafter an.</p><lb/> <p xml:id="ID_1470" next="#ID_1471"> Einen Verkehr hatte er seit seiner Wiederankunft in Berlin nicht angebahnt,<lb/> und bei der Hohlheit und Phrasenhaftigkeit des modernen Lebens einer Weltstadt</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0458]
Auf dem Stilfser Joch.
Liftes Kapitel.
Abgesehen von dieser Unterredung, hatte Harald nicht nötig gehabt, die
Flucht Vronis im Gespräche mit irgend jemand zu berühren; denn wenn ihn
die Notwendigkeit nicht zwang, verließ er seine Wohnung nicht.
Die Betäubung, in welche ihn der Verlust Vronis versetzt hatte, war allmäh¬
lich einer tiefen Erschlaffung gewichen und hatte seinem Gemüte eine Ruhe ge¬
geben, welche freilich nicht die des natürlichen Friedens war. Wer mitten im
Glück von einem schweren Schicksalsschläge heimgesucht wird, darf hoffen, sich auch
wieder emporzuraffen; die noch ungebrochenen Kräfte besitzen noch die Wider¬
standsfähigkeit, um die Herrschaft über sich selbst zurückerobern zu können; eine
befreiende That in der Arbeit vermag das beschwerte Herz wieder zu erleichtern.
Anders, wenn eine schwere Prüfung des Schicksals einen Mann heimsucht, der
bereits seit Jcchreu dem Fatum zu Experimenten hat dienen müssen, der gleichsam
dem Geschick ein Versuchsfeld für die Vivisektionen seines Gemüts dargeboten hat,
der chronisch an den Heimsuchungen der Gottheit leidet. Einem solchen Manne
sind die physischen und moralischen Kräfte, welche geeignet sind, den sinkenden
Mut aufs neue zu beleben, geschwunden; an Stelle der Widerstandsfähigkeit tritt
eine gleichgültige Lethargie; er wird zur wandelnden Leiche. Das war der Zu¬
stand Haralds. Für ihn war jedes Interesse für die Welt und jede Beziehung
zu ihr geschwunden; kein Ton drang mehr von außen in sein Herz, um dort
einen Wiederhall zu finden. Der Untergang der Welt hätte ihn zwar nach
des Dichters Wort furchtlos getroffen, iinxiivicwro k«zrisrck ruinas, aber es wäre
nicht die Furchtlosigkeit eines mutigen, sondern eines für alle Regungen abge¬
storbenen Herzens gewesen.
In den ersten Tagen nach jener Katastrophe war ihm wohl auch der Ge¬
danke gekommen, ob es nicht besser sei, sich von der Last des Lebens ganz zu
befreien; allein auch dies schien ihm interesselos. Was hatte er noch zu fürchten
oder zu hoffen? Für ihn war der Tod ebenso gleichgültig wie das Leben. Auch
hatte er das Gefühl der Pflichterfüllung noch nicht ganz verloren; so wie der
elektrische Strom noch eine Zeit lang in dem toten Kadaver nachwirkt und ihn
zu mechanischen Bewegungen veranlaßt, so wirkte der Umstand, daß die Sorge
um den Bruder nicht geschlossen sei, doch noch bewegend ans den todmüden
Mann ein. Ja dieser Gedanke war imstande, ihm einen neuen Ausschwung zur
Thätigkeit zu geben. Er empfand es als eine drückende Unfreiheit, daß über¬
haupt noch etwas existire, das ihn mit den Geschicken der Menschheit verknüpfe,
daß er nicht alles auf einmal abstreifen könne, sondern daß immer noch etwas
vorhanden sei, das durch seinen Druck das Gewissen belaste. Und die Vor¬
stellung, wie er sich von dieser letzten Kette befreien könnte, regte ihn immer
lebhafter an.
Einen Verkehr hatte er seit seiner Wiederankunft in Berlin nicht angebahnt,
und bei der Hohlheit und Phrasenhaftigkeit des modernen Lebens einer Weltstadt
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