Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

und Dummen, Starken und Schwächlingen besteht und Leidenschaften mächtiger
wirken als Vernunftgründe. Aber die Sichtung der gegnerischen Elemente kann
uns die Aufgabe erleichtern, welche die Gegenwart von uns fordert und welche
darin besteht, das Mögliche ungesäumt zu thun, das Unmögliche energisch ab¬
zuweisen.

Unmöglich ist, daß ein monarchischer Staat zu seiner Selbstauflösnng mit-
mirke; unmöglich ist, daß allen Staatsbürgern eine gleichmäßig behagliche
Existenz geschaffen oder gar gewährleistet werde; unmöglich ist, Not und Elend,
Krankheit und Armut und die im Gefolge dieser Schattengestalten dahinschleichende
Sorge aus der menschlichen Gesellschaft zu bannen; unmöglich ist, die Unzu¬
friedenheit der Besitzlosen durch eine Anweisung auf die Besitzenden aufzuheben.

Über das, was erreichbar ist, können die Ansichten auseinandergehen. Ein
Spezifikum, ein generelles Heilmittel giebt es uicht. Organische Krankheiten
können nur durch das Gesunden des erkrankten Organes gehoben werden. Krank¬
heit in unserm Staatsleben aber ist die unheilvolle Vermischung der regierungs¬
feindlichen Elemente zu einer allgemeinen, oppositionellen Partei, deren Führer
die politisch Umreisen unter falschen Vorspiegelungen anlocken. In diese faulende,
gährende Masse selbst müssen wir hineinschreiben. Wir müssen die Kanäle unter¬
binden, die den Zufluß bilde".

Mit einem Wort: wir können der sozialistischen Bewegung nur dann Herr
werden, wenn wir der demagogischen Wühlerei, die nnter dem Deckmantel einer
gesetzlich zulässigen Wahlagitation immer bedenklicher um sich greift, den Boden
entziehen und den arbeitenden Klassen die Möglichkeit gewähren, ihre Wünsche
und Beschwerden unentstellt in der Volksvertretung vorzubringen. Eine solche
Sichtung des großen Haufens der Unzufriedenen in zwei Gruppen, d. h. in
eine solche, mit der ein Kompromiß unausführbar ist, und in eine andre, die
durch Berücksichtigung ihrer Forderungen für eine nützliche Mitwirkung an dem
bestehenden Staatswesen gewonnen werden kann, eine solche Scheidung der
zwei nicht zusammengehörigen und nur mechanisch vermengten Elemente ist sehr
wohl möglich -- ja mehr, sie ist notwendig!


2.

An jedes staatliche Nefvrmprvjekt darf man billigerweise mit dem doppelten
Anspruch herantreten, daß es erstens eine Verbesserung des bisherigen Zu¬
standes darstelle, und zweitens, daß es sofort ohne Schwierigkeit ansftthrbar sei.
Die zweite Forderung, die wir von unserm realpolitischen Staudpunkte aus als
der erste" durchaus gleichwertig erachten, führt naturgemäß zu einer Beschrän¬
kung des Neformgebietcs. Nicht was wünschenswert, sondern was praktisch
ausführbar ist, wird den Gegenstand dieser Untersuchung bilden. Hier, wie so
oft, kann das Bessere zum Feinde des Guten werden. Unsre Ausgabe wird
demnach darin bestehen, eine Wahlreform vorzuschlagen und zu begründen,


und Dummen, Starken und Schwächlingen besteht und Leidenschaften mächtiger
wirken als Vernunftgründe. Aber die Sichtung der gegnerischen Elemente kann
uns die Aufgabe erleichtern, welche die Gegenwart von uns fordert und welche
darin besteht, das Mögliche ungesäumt zu thun, das Unmögliche energisch ab¬
zuweisen.

Unmöglich ist, daß ein monarchischer Staat zu seiner Selbstauflösnng mit-
mirke; unmöglich ist, daß allen Staatsbürgern eine gleichmäßig behagliche
Existenz geschaffen oder gar gewährleistet werde; unmöglich ist, Not und Elend,
Krankheit und Armut und die im Gefolge dieser Schattengestalten dahinschleichende
Sorge aus der menschlichen Gesellschaft zu bannen; unmöglich ist, die Unzu¬
friedenheit der Besitzlosen durch eine Anweisung auf die Besitzenden aufzuheben.

Über das, was erreichbar ist, können die Ansichten auseinandergehen. Ein
Spezifikum, ein generelles Heilmittel giebt es uicht. Organische Krankheiten
können nur durch das Gesunden des erkrankten Organes gehoben werden. Krank¬
heit in unserm Staatsleben aber ist die unheilvolle Vermischung der regierungs¬
feindlichen Elemente zu einer allgemeinen, oppositionellen Partei, deren Führer
die politisch Umreisen unter falschen Vorspiegelungen anlocken. In diese faulende,
gährende Masse selbst müssen wir hineinschreiben. Wir müssen die Kanäle unter¬
binden, die den Zufluß bilde«.

Mit einem Wort: wir können der sozialistischen Bewegung nur dann Herr
werden, wenn wir der demagogischen Wühlerei, die nnter dem Deckmantel einer
gesetzlich zulässigen Wahlagitation immer bedenklicher um sich greift, den Boden
entziehen und den arbeitenden Klassen die Möglichkeit gewähren, ihre Wünsche
und Beschwerden unentstellt in der Volksvertretung vorzubringen. Eine solche
Sichtung des großen Haufens der Unzufriedenen in zwei Gruppen, d. h. in
eine solche, mit der ein Kompromiß unausführbar ist, und in eine andre, die
durch Berücksichtigung ihrer Forderungen für eine nützliche Mitwirkung an dem
bestehenden Staatswesen gewonnen werden kann, eine solche Scheidung der
zwei nicht zusammengehörigen und nur mechanisch vermengten Elemente ist sehr
wohl möglich — ja mehr, sie ist notwendig!


2.

An jedes staatliche Nefvrmprvjekt darf man billigerweise mit dem doppelten
Anspruch herantreten, daß es erstens eine Verbesserung des bisherigen Zu¬
standes darstelle, und zweitens, daß es sofort ohne Schwierigkeit ansftthrbar sei.
Die zweite Forderung, die wir von unserm realpolitischen Staudpunkte aus als
der erste» durchaus gleichwertig erachten, führt naturgemäß zu einer Beschrän¬
kung des Neformgebietcs. Nicht was wünschenswert, sondern was praktisch
ausführbar ist, wird den Gegenstand dieser Untersuchung bilden. Hier, wie so
oft, kann das Bessere zum Feinde des Guten werden. Unsre Ausgabe wird
demnach darin bestehen, eine Wahlreform vorzuschlagen und zu begründen,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0014" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196748"/>
            <fw type="header" place="top"/><lb/>
            <p xml:id="ID_24" prev="#ID_23"> und Dummen, Starken und Schwächlingen besteht und Leidenschaften mächtiger<lb/>
wirken als Vernunftgründe. Aber die Sichtung der gegnerischen Elemente kann<lb/>
uns die Aufgabe erleichtern, welche die Gegenwart von uns fordert und welche<lb/>
darin besteht, das Mögliche ungesäumt zu thun, das Unmögliche energisch ab¬<lb/>
zuweisen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_25"> Unmöglich ist, daß ein monarchischer Staat zu seiner Selbstauflösnng mit-<lb/>
mirke; unmöglich ist, daß allen Staatsbürgern eine gleichmäßig behagliche<lb/>
Existenz geschaffen oder gar gewährleistet werde; unmöglich ist, Not und Elend,<lb/>
Krankheit und Armut und die im Gefolge dieser Schattengestalten dahinschleichende<lb/>
Sorge aus der menschlichen Gesellschaft zu bannen; unmöglich ist, die Unzu¬<lb/>
friedenheit der Besitzlosen durch eine Anweisung auf die Besitzenden aufzuheben.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_26"> Über das, was erreichbar ist, können die Ansichten auseinandergehen. Ein<lb/>
Spezifikum, ein generelles Heilmittel giebt es uicht. Organische Krankheiten<lb/>
können nur durch das Gesunden des erkrankten Organes gehoben werden. Krank¬<lb/>
heit in unserm Staatsleben aber ist die unheilvolle Vermischung der regierungs¬<lb/>
feindlichen Elemente zu einer allgemeinen, oppositionellen Partei, deren Führer<lb/>
die politisch Umreisen unter falschen Vorspiegelungen anlocken. In diese faulende,<lb/>
gährende Masse selbst müssen wir hineinschreiben. Wir müssen die Kanäle unter¬<lb/>
binden, die den Zufluß bilde«.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_27"> Mit einem Wort: wir können der sozialistischen Bewegung nur dann Herr<lb/>
werden, wenn wir der demagogischen Wühlerei, die nnter dem Deckmantel einer<lb/>
gesetzlich zulässigen Wahlagitation immer bedenklicher um sich greift, den Boden<lb/>
entziehen und den arbeitenden Klassen die Möglichkeit gewähren, ihre Wünsche<lb/>
und Beschwerden unentstellt in der Volksvertretung vorzubringen. Eine solche<lb/>
Sichtung des großen Haufens der Unzufriedenen in zwei Gruppen, d. h. in<lb/>
eine solche, mit der ein Kompromiß unausführbar ist, und in eine andre, die<lb/>
durch Berücksichtigung ihrer Forderungen für eine nützliche Mitwirkung an dem<lb/>
bestehenden Staatswesen gewonnen werden kann, eine solche Scheidung der<lb/>
zwei nicht zusammengehörigen und nur mechanisch vermengten Elemente ist sehr<lb/>
wohl möglich &#x2014; ja mehr, sie ist notwendig!</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> 2.</head><lb/>
            <p xml:id="ID_28" next="#ID_29"> An jedes staatliche Nefvrmprvjekt darf man billigerweise mit dem doppelten<lb/>
Anspruch herantreten, daß es erstens eine Verbesserung des bisherigen Zu¬<lb/>
standes darstelle, und zweitens, daß es sofort ohne Schwierigkeit ansftthrbar sei.<lb/>
Die zweite Forderung, die wir von unserm realpolitischen Staudpunkte aus als<lb/>
der erste» durchaus gleichwertig erachten, führt naturgemäß zu einer Beschrän¬<lb/>
kung des Neformgebietcs. Nicht was wünschenswert, sondern was praktisch<lb/>
ausführbar ist, wird den Gegenstand dieser Untersuchung bilden. Hier, wie so<lb/>
oft, kann das Bessere zum Feinde des Guten werden. Unsre Ausgabe wird<lb/>
demnach darin bestehen, eine Wahlreform vorzuschlagen und zu begründen,</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0014] und Dummen, Starken und Schwächlingen besteht und Leidenschaften mächtiger wirken als Vernunftgründe. Aber die Sichtung der gegnerischen Elemente kann uns die Aufgabe erleichtern, welche die Gegenwart von uns fordert und welche darin besteht, das Mögliche ungesäumt zu thun, das Unmögliche energisch ab¬ zuweisen. Unmöglich ist, daß ein monarchischer Staat zu seiner Selbstauflösnng mit- mirke; unmöglich ist, daß allen Staatsbürgern eine gleichmäßig behagliche Existenz geschaffen oder gar gewährleistet werde; unmöglich ist, Not und Elend, Krankheit und Armut und die im Gefolge dieser Schattengestalten dahinschleichende Sorge aus der menschlichen Gesellschaft zu bannen; unmöglich ist, die Unzu¬ friedenheit der Besitzlosen durch eine Anweisung auf die Besitzenden aufzuheben. Über das, was erreichbar ist, können die Ansichten auseinandergehen. Ein Spezifikum, ein generelles Heilmittel giebt es uicht. Organische Krankheiten können nur durch das Gesunden des erkrankten Organes gehoben werden. Krank¬ heit in unserm Staatsleben aber ist die unheilvolle Vermischung der regierungs¬ feindlichen Elemente zu einer allgemeinen, oppositionellen Partei, deren Führer die politisch Umreisen unter falschen Vorspiegelungen anlocken. In diese faulende, gährende Masse selbst müssen wir hineinschreiben. Wir müssen die Kanäle unter¬ binden, die den Zufluß bilde«. Mit einem Wort: wir können der sozialistischen Bewegung nur dann Herr werden, wenn wir der demagogischen Wühlerei, die nnter dem Deckmantel einer gesetzlich zulässigen Wahlagitation immer bedenklicher um sich greift, den Boden entziehen und den arbeitenden Klassen die Möglichkeit gewähren, ihre Wünsche und Beschwerden unentstellt in der Volksvertretung vorzubringen. Eine solche Sichtung des großen Haufens der Unzufriedenen in zwei Gruppen, d. h. in eine solche, mit der ein Kompromiß unausführbar ist, und in eine andre, die durch Berücksichtigung ihrer Forderungen für eine nützliche Mitwirkung an dem bestehenden Staatswesen gewonnen werden kann, eine solche Scheidung der zwei nicht zusammengehörigen und nur mechanisch vermengten Elemente ist sehr wohl möglich — ja mehr, sie ist notwendig! 2. An jedes staatliche Nefvrmprvjekt darf man billigerweise mit dem doppelten Anspruch herantreten, daß es erstens eine Verbesserung des bisherigen Zu¬ standes darstelle, und zweitens, daß es sofort ohne Schwierigkeit ansftthrbar sei. Die zweite Forderung, die wir von unserm realpolitischen Staudpunkte aus als der erste» durchaus gleichwertig erachten, führt naturgemäß zu einer Beschrän¬ kung des Neformgebietcs. Nicht was wünschenswert, sondern was praktisch ausführbar ist, wird den Gegenstand dieser Untersuchung bilden. Hier, wie so oft, kann das Bessere zum Feinde des Guten werden. Unsre Ausgabe wird demnach darin bestehen, eine Wahlreform vorzuschlagen und zu begründen,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/14
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/14>, abgerufen am 15.01.2025.