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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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scheidend sein sollte für die Zulassung einer nochmaligen Abstimmung, mag die¬
selbe nun als Vorzug oder als Nachteil angesehen werden. Da die Hauptwahl
ein dreijähriges Mandat erteilt, so erscheint es weit eher gerecht, daß ein Ersatz,
dessen Eintreten kein Wähler voraussehen konnte, im Sinne des ersten Wahl¬
ergebnisses stattfindet, zumal bei einem zweiten Wahlgänge der verwerfliche
Apparat einer gehässigen Agitation die Leidenschaften der Masse steigert
und, wie die Erfahrung gezeigt hat, sehr oft zur Fälschung der Volksmei-
nung führt.

Thomas Hare hat vorgeschlagen, dem Parlamente selbst die Besetzung ein¬
tretender Vakanzen zu übertragen. Er glaubt, daß dies Verfahren den Vorteil
böte, Männer von hervorragender politischer Bedeutung, welche bei der Haupt¬
wahl unberücksichtigt blieben oder bleiben wollten, nachträglich heranzuziehen.
Wem? eine Einigung über eine solche Auswahl schon an und für sich sehr
fraglich ist, so weist der Haresche Ergänzungsmodus auch prinzipielle Übelstände
auf, die ihn für unsre Zustände ungeeignet erscheinen lassen. Denn da bei den
Abstimmungen im Reichstage die absolute Majorität entscheidet, so würde bei
einer von dem Hause selbst vorgenommene" Ersatzwahl die stärkste Partei immer
das Übergewicht haben, indem sie sich durch Kompromisse mit schwächer" Gruppen
die Stimmenmehrheit sicherte. Das Haresche Verfahren würde also in der
Praxis auf ein fortgesetztes Anwachsen der ohnehin mächtigsten Fraktion hinaus¬
laufen, während der oben vertretene Vorschlag den: Reichstage diejenige Physio¬
gnomie erhält, die er beim Zeitpunkte seines Zusammentrittes hatte und die ihm
aus Billigkeitsrücksichteu bewahrt bleiben sollte.


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Wir sind am Schluß unsrer Betrachtung angelangt. Nicht als ob das
Thema erschöpft sei, dasselbe ließe sich in seinen Details noch sehr viel weiter
verfolge":. Dem Leser aber, der uns auf dem oft mühseligen Wege über das
dürre Gebiet der Zahlen begleitet hat, werden die gegebenen Anhaltepunkte
genügt haben, um ein Bild von dem Verlauf und der Wirkung des vor¬
geschlagenen Verfahrens zu gewinnen. Auch wird er bereits an den einzelnen
Stationen einen kritischen Umblick gethan und die Borzüge unsers Wahlprojekts
erkannt haben. Lediglich der Übersichtlichkeit wegen fassen nur dieselben hier
noch einmal in kurzen Sätzen zusammen.

1. Die proportionale Berufsklasseuwahl begründet eine neue ständische
Basis der Volksvertretung.

2. Sie setzt an die Stelle geographischer Wahlbezirke die organischen Ver¬
bände berufsmäßig geeinigter Wählcrgruppen.

3. Sie beseitigt die unhaltbare Fiktion, daß jeder Abgeordnete Vertreter
des gesinnten Volkes sei, und regelt die thatsächlich schon vorhandne Bildung
vou Interessentengruppen.


scheidend sein sollte für die Zulassung einer nochmaligen Abstimmung, mag die¬
selbe nun als Vorzug oder als Nachteil angesehen werden. Da die Hauptwahl
ein dreijähriges Mandat erteilt, so erscheint es weit eher gerecht, daß ein Ersatz,
dessen Eintreten kein Wähler voraussehen konnte, im Sinne des ersten Wahl¬
ergebnisses stattfindet, zumal bei einem zweiten Wahlgänge der verwerfliche
Apparat einer gehässigen Agitation die Leidenschaften der Masse steigert
und, wie die Erfahrung gezeigt hat, sehr oft zur Fälschung der Volksmei-
nung führt.

Thomas Hare hat vorgeschlagen, dem Parlamente selbst die Besetzung ein¬
tretender Vakanzen zu übertragen. Er glaubt, daß dies Verfahren den Vorteil
böte, Männer von hervorragender politischer Bedeutung, welche bei der Haupt¬
wahl unberücksichtigt blieben oder bleiben wollten, nachträglich heranzuziehen.
Wem? eine Einigung über eine solche Auswahl schon an und für sich sehr
fraglich ist, so weist der Haresche Ergänzungsmodus auch prinzipielle Übelstände
auf, die ihn für unsre Zustände ungeeignet erscheinen lassen. Denn da bei den
Abstimmungen im Reichstage die absolute Majorität entscheidet, so würde bei
einer von dem Hause selbst vorgenommene» Ersatzwahl die stärkste Partei immer
das Übergewicht haben, indem sie sich durch Kompromisse mit schwächer» Gruppen
die Stimmenmehrheit sicherte. Das Haresche Verfahren würde also in der
Praxis auf ein fortgesetztes Anwachsen der ohnehin mächtigsten Fraktion hinaus¬
laufen, während der oben vertretene Vorschlag den: Reichstage diejenige Physio¬
gnomie erhält, die er beim Zeitpunkte seines Zusammentrittes hatte und die ihm
aus Billigkeitsrücksichteu bewahrt bleiben sollte.


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Wir sind am Schluß unsrer Betrachtung angelangt. Nicht als ob das
Thema erschöpft sei, dasselbe ließe sich in seinen Details noch sehr viel weiter
verfolge»:. Dem Leser aber, der uns auf dem oft mühseligen Wege über das
dürre Gebiet der Zahlen begleitet hat, werden die gegebenen Anhaltepunkte
genügt haben, um ein Bild von dem Verlauf und der Wirkung des vor¬
geschlagenen Verfahrens zu gewinnen. Auch wird er bereits an den einzelnen
Stationen einen kritischen Umblick gethan und die Borzüge unsers Wahlprojekts
erkannt haben. Lediglich der Übersichtlichkeit wegen fassen nur dieselben hier
noch einmal in kurzen Sätzen zusammen.

1. Die proportionale Berufsklasseuwahl begründet eine neue ständische
Basis der Volksvertretung.

2. Sie setzt an die Stelle geographischer Wahlbezirke die organischen Ver¬
bände berufsmäßig geeinigter Wählcrgruppen.

3. Sie beseitigt die unhaltbare Fiktion, daß jeder Abgeordnete Vertreter
des gesinnten Volkes sei, und regelt die thatsächlich schon vorhandne Bildung
vou Interessentengruppen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/135>, abgerufen am 15.01.2025.