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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Die proportionale Berufsklassenwcihl.

4. Sie bringt in der denkbar vollständigsten Form alle Stimmen zur
Geltung und verbürgt die Vertretung der bisherigen Minoritäten. Damit
gelangt die jeweilige Volksmeinung am wenigsten verfälscht zum Ausdruck.

5. Sie gestattet eine Umbildung des jetzigen Parteiwesens, eine schärfere
Begrenzung der Mcinuugsgruppen, und begünstigt den Anschluß versprengter
Gesinnungsgenossen.

6. Sie verbürgt eine größere Kontinuität der politischen Strömungen und
verhindert, daß vorübergehende Schwankungen in der Volksstimmung fogleich
und in vergrößertem Maßstabe die Zusammensetzung des Parlaments beeinflussen.

7. Sie nimmt dem Wahlkampfe seine Erbitterung und Leidenschaftlichkeit,
indem sie deren Ursache, die unverhältnismäßige Begünstigung und Entwertung
der Stimmen, entfernt.

8. Sie beseitigt die anerkannten Übel der Stich- und Nachwahlen, verein¬
facht die Ergänzung des Reichstages und erhält ihm den Charakter seiner Zu¬
sammensetzung für die ganze Dauer der Legislaturperiode.

9. Sie mindert den persönlichen Einfluß parlamentarischer Streber oder
lokaler Cliquen und bewirkt, daß bei der Aufstellung von Kandidaten die Pcr-
sonalfrage hinter das Verbandsintercsfc zurücktritt.

10. Sie ermöglicht, daß bei den Beratungen und Abstimmungen des
Reichstages über einzelne Streitfragen ihrer verschiedenartigen, z. B. ökonomische",
staatsrechtlichen oder konfessionellen Natur nach auch eine verschiedenartige,
wechselnde Gruppirung der Abgeordneten stattfindet. Damit ist der Terrorismus
des jetzigen Parteiwesens, welcher unterschiedliche Fragen insgesamt von dem
einseitigen Parteistandpunkte aus beurteilt sehen will, beseitigt und der Rücksicht
auf den Berufsstand ein bestimmender Platz in den Erwägungen angewiesen.

11. Sie erzeugt durch Einfügung der bcrufsftändischen Gliederung eine
Spaltung im sozialistischen Lager, führt die aus ökonomischen Gründen Mi߬
vergnügten infolge des verschiedenartigen Berufsinteresfes auseinander und bietet
in der Belebung eines autoritativen Kollektivismus die Möglichkeit einer Be¬
rücksichtigung berechtigter ökonomischer Forderungen.

12. Sie entzieht durch Vereinfachung des Wahlaktes und die damit ver¬
bundene Ernüchterung der Massen einer demagogischen Wühlerei den Boden,
der bisher das fruchtbarste Gebiet für sozialistische und revolutionäre Umtriebe
abgab.

Über die verfassungsmäßige Zulässigkeit der Einführung des neuen Wahl¬
verfahrens haben wir uns schon oben ausgesprochen. Eine Änderung der Ver¬
fassung, welche nach kaum vierzehnjährigen Bestehen derselben aus mancherlei
Gründen unzweckmäßig erscheinen kann, ist eigentlich nur in einem Punkte nötig.
In dem Absatz 2 des Artikels 20 wird die Zahl der Mandate bestimmt,
welche den süddeutschen Staaten nach Maßgabe ihrer Bevölkerungsziffer zufallen.
Das Einhalten dieser Bestimmung kann der proportionale Wahlmodus nicht


Die proportionale Berufsklassenwcihl.

4. Sie bringt in der denkbar vollständigsten Form alle Stimmen zur
Geltung und verbürgt die Vertretung der bisherigen Minoritäten. Damit
gelangt die jeweilige Volksmeinung am wenigsten verfälscht zum Ausdruck.

5. Sie gestattet eine Umbildung des jetzigen Parteiwesens, eine schärfere
Begrenzung der Mcinuugsgruppen, und begünstigt den Anschluß versprengter
Gesinnungsgenossen.

6. Sie verbürgt eine größere Kontinuität der politischen Strömungen und
verhindert, daß vorübergehende Schwankungen in der Volksstimmung fogleich
und in vergrößertem Maßstabe die Zusammensetzung des Parlaments beeinflussen.

7. Sie nimmt dem Wahlkampfe seine Erbitterung und Leidenschaftlichkeit,
indem sie deren Ursache, die unverhältnismäßige Begünstigung und Entwertung
der Stimmen, entfernt.

8. Sie beseitigt die anerkannten Übel der Stich- und Nachwahlen, verein¬
facht die Ergänzung des Reichstages und erhält ihm den Charakter seiner Zu¬
sammensetzung für die ganze Dauer der Legislaturperiode.

9. Sie mindert den persönlichen Einfluß parlamentarischer Streber oder
lokaler Cliquen und bewirkt, daß bei der Aufstellung von Kandidaten die Pcr-
sonalfrage hinter das Verbandsintercsfc zurücktritt.

10. Sie ermöglicht, daß bei den Beratungen und Abstimmungen des
Reichstages über einzelne Streitfragen ihrer verschiedenartigen, z. B. ökonomische»,
staatsrechtlichen oder konfessionellen Natur nach auch eine verschiedenartige,
wechselnde Gruppirung der Abgeordneten stattfindet. Damit ist der Terrorismus
des jetzigen Parteiwesens, welcher unterschiedliche Fragen insgesamt von dem
einseitigen Parteistandpunkte aus beurteilt sehen will, beseitigt und der Rücksicht
auf den Berufsstand ein bestimmender Platz in den Erwägungen angewiesen.

11. Sie erzeugt durch Einfügung der bcrufsftändischen Gliederung eine
Spaltung im sozialistischen Lager, führt die aus ökonomischen Gründen Mi߬
vergnügten infolge des verschiedenartigen Berufsinteresfes auseinander und bietet
in der Belebung eines autoritativen Kollektivismus die Möglichkeit einer Be¬
rücksichtigung berechtigter ökonomischer Forderungen.

12. Sie entzieht durch Vereinfachung des Wahlaktes und die damit ver¬
bundene Ernüchterung der Massen einer demagogischen Wühlerei den Boden,
der bisher das fruchtbarste Gebiet für sozialistische und revolutionäre Umtriebe
abgab.

Über die verfassungsmäßige Zulässigkeit der Einführung des neuen Wahl¬
verfahrens haben wir uns schon oben ausgesprochen. Eine Änderung der Ver¬
fassung, welche nach kaum vierzehnjährigen Bestehen derselben aus mancherlei
Gründen unzweckmäßig erscheinen kann, ist eigentlich nur in einem Punkte nötig.
In dem Absatz 2 des Artikels 20 wird die Zahl der Mandate bestimmt,
welche den süddeutschen Staaten nach Maßgabe ihrer Bevölkerungsziffer zufallen.
Das Einhalten dieser Bestimmung kann der proportionale Wahlmodus nicht


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[0136] Die proportionale Berufsklassenwcihl. 4. Sie bringt in der denkbar vollständigsten Form alle Stimmen zur Geltung und verbürgt die Vertretung der bisherigen Minoritäten. Damit gelangt die jeweilige Volksmeinung am wenigsten verfälscht zum Ausdruck. 5. Sie gestattet eine Umbildung des jetzigen Parteiwesens, eine schärfere Begrenzung der Mcinuugsgruppen, und begünstigt den Anschluß versprengter Gesinnungsgenossen. 6. Sie verbürgt eine größere Kontinuität der politischen Strömungen und verhindert, daß vorübergehende Schwankungen in der Volksstimmung fogleich und in vergrößertem Maßstabe die Zusammensetzung des Parlaments beeinflussen. 7. Sie nimmt dem Wahlkampfe seine Erbitterung und Leidenschaftlichkeit, indem sie deren Ursache, die unverhältnismäßige Begünstigung und Entwertung der Stimmen, entfernt. 8. Sie beseitigt die anerkannten Übel der Stich- und Nachwahlen, verein¬ facht die Ergänzung des Reichstages und erhält ihm den Charakter seiner Zu¬ sammensetzung für die ganze Dauer der Legislaturperiode. 9. Sie mindert den persönlichen Einfluß parlamentarischer Streber oder lokaler Cliquen und bewirkt, daß bei der Aufstellung von Kandidaten die Pcr- sonalfrage hinter das Verbandsintercsfc zurücktritt. 10. Sie ermöglicht, daß bei den Beratungen und Abstimmungen des Reichstages über einzelne Streitfragen ihrer verschiedenartigen, z. B. ökonomische», staatsrechtlichen oder konfessionellen Natur nach auch eine verschiedenartige, wechselnde Gruppirung der Abgeordneten stattfindet. Damit ist der Terrorismus des jetzigen Parteiwesens, welcher unterschiedliche Fragen insgesamt von dem einseitigen Parteistandpunkte aus beurteilt sehen will, beseitigt und der Rücksicht auf den Berufsstand ein bestimmender Platz in den Erwägungen angewiesen. 11. Sie erzeugt durch Einfügung der bcrufsftändischen Gliederung eine Spaltung im sozialistischen Lager, führt die aus ökonomischen Gründen Mi߬ vergnügten infolge des verschiedenartigen Berufsinteresfes auseinander und bietet in der Belebung eines autoritativen Kollektivismus die Möglichkeit einer Be¬ rücksichtigung berechtigter ökonomischer Forderungen. 12. Sie entzieht durch Vereinfachung des Wahlaktes und die damit ver¬ bundene Ernüchterung der Massen einer demagogischen Wühlerei den Boden, der bisher das fruchtbarste Gebiet für sozialistische und revolutionäre Umtriebe abgab. Über die verfassungsmäßige Zulässigkeit der Einführung des neuen Wahl¬ verfahrens haben wir uns schon oben ausgesprochen. Eine Änderung der Ver¬ fassung, welche nach kaum vierzehnjährigen Bestehen derselben aus mancherlei Gründen unzweckmäßig erscheinen kann, ist eigentlich nur in einem Punkte nötig. In dem Absatz 2 des Artikels 20 wird die Zahl der Mandate bestimmt, welche den süddeutschen Staaten nach Maßgabe ihrer Bevölkerungsziffer zufallen. Das Einhalten dieser Bestimmung kann der proportionale Wahlmodus nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/136>, abgerufen am 15.01.2025.