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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Gin Veilchen auf der Wiese stand.

n den nächsten Tagen sind es hundert Jahre her, daß Mozart
in Wien Goethes "Veilchen" komponirte. Die Handschrift, die sich
nach Köchels "Chronologisch-thematischem Verzeichnis sämtlicher
Tonwerke Wolfgang Amade Mozarts" 1860 im Besitz von Wil¬
helm Speyer in Frankfurt befand (wo ist sie heute?), trägt die
Überschrift: "Das Veilchen, Vom Goethe. 8, Juni 1785." Dem ersten Bande
von Otto Jahns "Mozart" ist ein Facsimile derselben beigegeben, auf dem
leider das Datum weggelassen ist.

Wenn jemand ein historisches Liederalbum zusammenstellen wollte, um an
einer Auswahl charakteristischer Proben die Entwicklung des deutschen Kunst¬
liedes zu zeigen -- er könnte damit zugleich ein musikalisches Haushund von
großer Bedeutung schaffen") --, was würde er an die Spitze dieser Sammlung
stellen? Man könnte an die Arie denken, die Sebastian Bach zugeschrieben wird,
aber wahrscheinlich nicht von ihm herrührt: "Willst du dein Herz mir schenken,"
oder an das Haydnsche Schäferlied "Stets sagt die Mutter: schmücke dich"
oder gar an eine der Klopstockscher Oden, die Gluck komponirt hat. Aber alle
diese Vorschläge würden von der einen oder andern Seite gelinden Zweifeln
begegnen; der Vorstellung, die wir unwillkürlich heute mit einem Liede verbinden,
und die wir uns vou Dichtungen Goethes, Uhlcmds, Heines in Kompositionen
Schuberts, Mendelssohns, Schumanns gebildet haben, entspräche keines der
genannten: eine Arie, ein Pastorale, eine Ode ist eben etwas andres als ein
Lied. Aber schwerlich würde jemand Einspruch erheben, wenn man die
Sammlung mit Mozarts "Veilchen" eröffnen wollte. Ja, würde es von allen
Seite" heißen, das mag den Anfang machen, das ist das erste, wirkliche
Lied im heutigen Sinne, auch Schubert, selbst Mendelssohn noch könnte es ge¬
schrieben haben, und dieses erste deutsche Lied ist zugleich eine der herrlichsten
Blüten in dem reichen deutschen Liedergarten, frisch und jung, als Hütte sie
sich gestern erst entfaltet, unverwclklich, unveraltbar.

Die Versuche, ein kunstmäßiges deutsches Lied zu schaffen, lassen sich weit
in das achtzehnte Jahrhundert zurückverfolgen. Aber nicht nur alles von



*) Möchte sich doch die "Edition Peters" diesen Gedanken zur Ausführung empfohlen
sein lassen. Es könnte eine Sammlung werden, die bei allen gebildeten Licdcrsttngern die
größte Freude hervorriefe. Freilich würde sie zwei bis drei Bände beanspruchen. Eine
lehrreiche, gut und anregend geschriebene Einleitung dürfte nicht fehlen.
Gin Veilchen auf der Wiese stand.

n den nächsten Tagen sind es hundert Jahre her, daß Mozart
in Wien Goethes „Veilchen" komponirte. Die Handschrift, die sich
nach Köchels „Chronologisch-thematischem Verzeichnis sämtlicher
Tonwerke Wolfgang Amade Mozarts" 1860 im Besitz von Wil¬
helm Speyer in Frankfurt befand (wo ist sie heute?), trägt die
Überschrift: „Das Veilchen, Vom Goethe. 8, Juni 1785." Dem ersten Bande
von Otto Jahns „Mozart" ist ein Facsimile derselben beigegeben, auf dem
leider das Datum weggelassen ist.

Wenn jemand ein historisches Liederalbum zusammenstellen wollte, um an
einer Auswahl charakteristischer Proben die Entwicklung des deutschen Kunst¬
liedes zu zeigen — er könnte damit zugleich ein musikalisches Haushund von
großer Bedeutung schaffen") —, was würde er an die Spitze dieser Sammlung
stellen? Man könnte an die Arie denken, die Sebastian Bach zugeschrieben wird,
aber wahrscheinlich nicht von ihm herrührt: „Willst du dein Herz mir schenken,"
oder an das Haydnsche Schäferlied „Stets sagt die Mutter: schmücke dich"
oder gar an eine der Klopstockscher Oden, die Gluck komponirt hat. Aber alle
diese Vorschläge würden von der einen oder andern Seite gelinden Zweifeln
begegnen; der Vorstellung, die wir unwillkürlich heute mit einem Liede verbinden,
und die wir uns vou Dichtungen Goethes, Uhlcmds, Heines in Kompositionen
Schuberts, Mendelssohns, Schumanns gebildet haben, entspräche keines der
genannten: eine Arie, ein Pastorale, eine Ode ist eben etwas andres als ein
Lied. Aber schwerlich würde jemand Einspruch erheben, wenn man die
Sammlung mit Mozarts „Veilchen" eröffnen wollte. Ja, würde es von allen
Seite» heißen, das mag den Anfang machen, das ist das erste, wirkliche
Lied im heutigen Sinne, auch Schubert, selbst Mendelssohn noch könnte es ge¬
schrieben haben, und dieses erste deutsche Lied ist zugleich eine der herrlichsten
Blüten in dem reichen deutschen Liedergarten, frisch und jung, als Hütte sie
sich gestern erst entfaltet, unverwclklich, unveraltbar.

Die Versuche, ein kunstmäßiges deutsches Lied zu schaffen, lassen sich weit
in das achtzehnte Jahrhundert zurückverfolgen. Aber nicht nur alles von



*) Möchte sich doch die „Edition Peters" diesen Gedanken zur Ausführung empfohlen
sein lassen. Es könnte eine Sammlung werden, die bei allen gebildeten Licdcrsttngern die
größte Freude hervorriefe. Freilich würde sie zwei bis drei Bände beanspruchen. Eine
lehrreiche, gut und anregend geschriebene Einleitung dürfte nicht fehlen.
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[0528] Gin Veilchen auf der Wiese stand. n den nächsten Tagen sind es hundert Jahre her, daß Mozart in Wien Goethes „Veilchen" komponirte. Die Handschrift, die sich nach Köchels „Chronologisch-thematischem Verzeichnis sämtlicher Tonwerke Wolfgang Amade Mozarts" 1860 im Besitz von Wil¬ helm Speyer in Frankfurt befand (wo ist sie heute?), trägt die Überschrift: „Das Veilchen, Vom Goethe. 8, Juni 1785." Dem ersten Bande von Otto Jahns „Mozart" ist ein Facsimile derselben beigegeben, auf dem leider das Datum weggelassen ist. Wenn jemand ein historisches Liederalbum zusammenstellen wollte, um an einer Auswahl charakteristischer Proben die Entwicklung des deutschen Kunst¬ liedes zu zeigen — er könnte damit zugleich ein musikalisches Haushund von großer Bedeutung schaffen") —, was würde er an die Spitze dieser Sammlung stellen? Man könnte an die Arie denken, die Sebastian Bach zugeschrieben wird, aber wahrscheinlich nicht von ihm herrührt: „Willst du dein Herz mir schenken," oder an das Haydnsche Schäferlied „Stets sagt die Mutter: schmücke dich" oder gar an eine der Klopstockscher Oden, die Gluck komponirt hat. Aber alle diese Vorschläge würden von der einen oder andern Seite gelinden Zweifeln begegnen; der Vorstellung, die wir unwillkürlich heute mit einem Liede verbinden, und die wir uns vou Dichtungen Goethes, Uhlcmds, Heines in Kompositionen Schuberts, Mendelssohns, Schumanns gebildet haben, entspräche keines der genannten: eine Arie, ein Pastorale, eine Ode ist eben etwas andres als ein Lied. Aber schwerlich würde jemand Einspruch erheben, wenn man die Sammlung mit Mozarts „Veilchen" eröffnen wollte. Ja, würde es von allen Seite» heißen, das mag den Anfang machen, das ist das erste, wirkliche Lied im heutigen Sinne, auch Schubert, selbst Mendelssohn noch könnte es ge¬ schrieben haben, und dieses erste deutsche Lied ist zugleich eine der herrlichsten Blüten in dem reichen deutschen Liedergarten, frisch und jung, als Hütte sie sich gestern erst entfaltet, unverwclklich, unveraltbar. Die Versuche, ein kunstmäßiges deutsches Lied zu schaffen, lassen sich weit in das achtzehnte Jahrhundert zurückverfolgen. Aber nicht nur alles von *) Möchte sich doch die „Edition Peters" diesen Gedanken zur Ausführung empfohlen sein lassen. Es könnte eine Sammlung werden, die bei allen gebildeten Licdcrsttngern die größte Freude hervorriefe. Freilich würde sie zwei bis drei Bände beanspruchen. Eine lehrreiche, gut und anregend geschriebene Einleitung dürfte nicht fehlen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/528>, abgerufen am 22.07.2024.