Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Moriz Carriere über die Poesie.

^KM^M'
^<UOH'
^M^I>
MMkutar den deutschen Philosophen der Gegenwart nimmt Moriz
Carriere eine eigentümliche Stellung ein. Er ist der letzte Über¬
lebende jener einst weitverbreiteten Schule, als deren Häupter
außer ihm selbst Weiße, I. H. Fichte, Ulrici und Lotze zu be¬
trachten sind. Der "spekulative Theismus" suchte eine Versöhnung
der großen Hegelschen Weltgedanken mit den Anforderungen des Gemüts
herzustellen; er suchte Wissen und Glauben, Spekulation und Erfahrung, Idee
und Wirklichkeit zu verbinden, und strebte speziell darnach, Pantheismus und
Deismus durch die Anerkennung eines persönlichen, aber die Welt in sich
hegenden Gottes zu überwinden. Diese Richtung, die man mit dem Philosophen
Krause auch als "Pauenthcismus" bezeichnen kann, hat zwar auch in der
jüngeren und jüngsten Generation noch einige Vertreter, aber während diese
sich mehr und mehr in geschichtlichen und sonstigen Detailstudien fast zu verlieren
drohen, blieb es das Vorrecht jener ältern Generation, das richtige Gleichgewicht
zwischen der Allgemeinheit des Gedankens und dem Detail der Geschichte und
der Erfahrung zu bewahren. Es war kein Zufall, daß dieses Gleichgewicht
besonders auf dem Gebiete der Ästhetik gesucht und gefunden wurde. Die Kunst,
schon von Kant als die höhere Einheit von Natur und Freiheit, Diesseits und
Jenseits betrachtet, hatte auch bei Schelling wieder diese dominirende Stellung
eingenommen, und an diese Kant-Schellingsche Gedanken knüpften eben jene
obengenannten Männer an, besonders Weiße, Lotze und Carriere. Die Kunst
und speziell die Poesie ist es auch, was diese Richtung mit der großen Literatur-
Periode unsers Volkes verband. Insbesondre stand Carriere durch seine mannich-
fachen persönlichen Beziehungen stets dem Kreise der Dichter und Künstler nahe
und stellt so die Tradition der Vergangenheit an die Gegenwart her; dabei aber
ist er merkwürdig jung und frisch geblieben und steht, obwohl ein Greis, noch
jugendkräftig mitten in den Interessen und Strömungen der Zeit (so finden
wir in seinem neuesten Werke über die "Poesie" ebensosehr die moderne Literatur
bis auf Turgenjew, Björnson, Daudet, Zola, wie die jüngst erschienenen
theoretischen Arbeiten eines Steinthal, Siebeck, Fechner verwertet). Diese ihn
ganz besonders auszeichnende Eigentümlichkeit, diese akkomodationsfähige
Elastizität seines Wesens verdankt er, wenn wir nicht irren, in erster Linie
seiner eignen Künstlernatur; hat er sich doch durch seine Gedichte (vergl. Grenz-
boten 1883, S. 353 bis 360) als ein Wahrhaft poetischer Geist erwiesen. Er


Moriz Carriere über die Poesie.

^KM^M'
^<UOH'
^M^I>
MMkutar den deutschen Philosophen der Gegenwart nimmt Moriz
Carriere eine eigentümliche Stellung ein. Er ist der letzte Über¬
lebende jener einst weitverbreiteten Schule, als deren Häupter
außer ihm selbst Weiße, I. H. Fichte, Ulrici und Lotze zu be¬
trachten sind. Der „spekulative Theismus" suchte eine Versöhnung
der großen Hegelschen Weltgedanken mit den Anforderungen des Gemüts
herzustellen; er suchte Wissen und Glauben, Spekulation und Erfahrung, Idee
und Wirklichkeit zu verbinden, und strebte speziell darnach, Pantheismus und
Deismus durch die Anerkennung eines persönlichen, aber die Welt in sich
hegenden Gottes zu überwinden. Diese Richtung, die man mit dem Philosophen
Krause auch als „Pauenthcismus" bezeichnen kann, hat zwar auch in der
jüngeren und jüngsten Generation noch einige Vertreter, aber während diese
sich mehr und mehr in geschichtlichen und sonstigen Detailstudien fast zu verlieren
drohen, blieb es das Vorrecht jener ältern Generation, das richtige Gleichgewicht
zwischen der Allgemeinheit des Gedankens und dem Detail der Geschichte und
der Erfahrung zu bewahren. Es war kein Zufall, daß dieses Gleichgewicht
besonders auf dem Gebiete der Ästhetik gesucht und gefunden wurde. Die Kunst,
schon von Kant als die höhere Einheit von Natur und Freiheit, Diesseits und
Jenseits betrachtet, hatte auch bei Schelling wieder diese dominirende Stellung
eingenommen, und an diese Kant-Schellingsche Gedanken knüpften eben jene
obengenannten Männer an, besonders Weiße, Lotze und Carriere. Die Kunst
und speziell die Poesie ist es auch, was diese Richtung mit der großen Literatur-
Periode unsers Volkes verband. Insbesondre stand Carriere durch seine mannich-
fachen persönlichen Beziehungen stets dem Kreise der Dichter und Künstler nahe
und stellt so die Tradition der Vergangenheit an die Gegenwart her; dabei aber
ist er merkwürdig jung und frisch geblieben und steht, obwohl ein Greis, noch
jugendkräftig mitten in den Interessen und Strömungen der Zeit (so finden
wir in seinem neuesten Werke über die „Poesie" ebensosehr die moderne Literatur
bis auf Turgenjew, Björnson, Daudet, Zola, wie die jüngst erschienenen
theoretischen Arbeiten eines Steinthal, Siebeck, Fechner verwertet). Diese ihn
ganz besonders auszeichnende Eigentümlichkeit, diese akkomodationsfähige
Elastizität seines Wesens verdankt er, wenn wir nicht irren, in erster Linie
seiner eignen Künstlernatur; hat er sich doch durch seine Gedichte (vergl. Grenz-
boten 1883, S. 353 bis 360) als ein Wahrhaft poetischer Geist erwiesen. Er


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0143" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/195532"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Moriz Carriere über die Poesie.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_483" next="#ID_484"> ^KM^M'<lb/>
^&lt;UOH'<lb/>
^M^I&gt;<lb/>
MMkutar den deutschen Philosophen der Gegenwart nimmt Moriz<lb/>
Carriere eine eigentümliche Stellung ein. Er ist der letzte Über¬<lb/>
lebende jener einst weitverbreiteten Schule, als deren Häupter<lb/>
außer ihm selbst Weiße, I. H. Fichte, Ulrici und Lotze zu be¬<lb/>
trachten sind. Der &#x201E;spekulative Theismus" suchte eine Versöhnung<lb/>
der großen Hegelschen Weltgedanken mit den Anforderungen des Gemüts<lb/>
herzustellen; er suchte Wissen und Glauben, Spekulation und Erfahrung, Idee<lb/>
und Wirklichkeit zu verbinden, und strebte speziell darnach, Pantheismus und<lb/>
Deismus durch die Anerkennung eines persönlichen, aber die Welt in sich<lb/>
hegenden Gottes zu überwinden. Diese Richtung, die man mit dem Philosophen<lb/>
Krause auch als &#x201E;Pauenthcismus" bezeichnen kann, hat zwar auch in der<lb/>
jüngeren und jüngsten Generation noch einige Vertreter, aber während diese<lb/>
sich mehr und mehr in geschichtlichen und sonstigen Detailstudien fast zu verlieren<lb/>
drohen, blieb es das Vorrecht jener ältern Generation, das richtige Gleichgewicht<lb/>
zwischen der Allgemeinheit des Gedankens und dem Detail der Geschichte und<lb/>
der Erfahrung zu bewahren.  Es war kein Zufall, daß dieses Gleichgewicht<lb/>
besonders auf dem Gebiete der Ästhetik gesucht und gefunden wurde. Die Kunst,<lb/>
schon von Kant als die höhere Einheit von Natur und Freiheit, Diesseits und<lb/>
Jenseits betrachtet, hatte auch bei Schelling wieder diese dominirende Stellung<lb/>
eingenommen, und an diese Kant-Schellingsche Gedanken knüpften eben jene<lb/>
obengenannten Männer an, besonders Weiße, Lotze und Carriere.  Die Kunst<lb/>
und speziell die Poesie ist es auch, was diese Richtung mit der großen Literatur-<lb/>
Periode unsers Volkes verband. Insbesondre stand Carriere durch seine mannich-<lb/>
fachen persönlichen Beziehungen stets dem Kreise der Dichter und Künstler nahe<lb/>
und stellt so die Tradition der Vergangenheit an die Gegenwart her; dabei aber<lb/>
ist er merkwürdig jung und frisch geblieben und steht, obwohl ein Greis, noch<lb/>
jugendkräftig mitten in den Interessen und Strömungen der Zeit (so finden<lb/>
wir in seinem neuesten Werke über die &#x201E;Poesie" ebensosehr die moderne Literatur<lb/>
bis auf Turgenjew, Björnson, Daudet, Zola, wie die jüngst erschienenen<lb/>
theoretischen Arbeiten eines Steinthal, Siebeck, Fechner verwertet). Diese ihn<lb/>
ganz besonders  auszeichnende  Eigentümlichkeit,  diese akkomodationsfähige<lb/>
Elastizität seines Wesens verdankt er, wenn wir nicht irren, in erster Linie<lb/>
seiner eignen Künstlernatur; hat er sich doch durch seine Gedichte (vergl. Grenz-<lb/>
boten 1883, S. 353 bis 360) als ein Wahrhaft poetischer Geist erwiesen. Er</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0143] Moriz Carriere über die Poesie. ^KM^M' ^<UOH' ^M^I> MMkutar den deutschen Philosophen der Gegenwart nimmt Moriz Carriere eine eigentümliche Stellung ein. Er ist der letzte Über¬ lebende jener einst weitverbreiteten Schule, als deren Häupter außer ihm selbst Weiße, I. H. Fichte, Ulrici und Lotze zu be¬ trachten sind. Der „spekulative Theismus" suchte eine Versöhnung der großen Hegelschen Weltgedanken mit den Anforderungen des Gemüts herzustellen; er suchte Wissen und Glauben, Spekulation und Erfahrung, Idee und Wirklichkeit zu verbinden, und strebte speziell darnach, Pantheismus und Deismus durch die Anerkennung eines persönlichen, aber die Welt in sich hegenden Gottes zu überwinden. Diese Richtung, die man mit dem Philosophen Krause auch als „Pauenthcismus" bezeichnen kann, hat zwar auch in der jüngeren und jüngsten Generation noch einige Vertreter, aber während diese sich mehr und mehr in geschichtlichen und sonstigen Detailstudien fast zu verlieren drohen, blieb es das Vorrecht jener ältern Generation, das richtige Gleichgewicht zwischen der Allgemeinheit des Gedankens und dem Detail der Geschichte und der Erfahrung zu bewahren. Es war kein Zufall, daß dieses Gleichgewicht besonders auf dem Gebiete der Ästhetik gesucht und gefunden wurde. Die Kunst, schon von Kant als die höhere Einheit von Natur und Freiheit, Diesseits und Jenseits betrachtet, hatte auch bei Schelling wieder diese dominirende Stellung eingenommen, und an diese Kant-Schellingsche Gedanken knüpften eben jene obengenannten Männer an, besonders Weiße, Lotze und Carriere. Die Kunst und speziell die Poesie ist es auch, was diese Richtung mit der großen Literatur- Periode unsers Volkes verband. Insbesondre stand Carriere durch seine mannich- fachen persönlichen Beziehungen stets dem Kreise der Dichter und Künstler nahe und stellt so die Tradition der Vergangenheit an die Gegenwart her; dabei aber ist er merkwürdig jung und frisch geblieben und steht, obwohl ein Greis, noch jugendkräftig mitten in den Interessen und Strömungen der Zeit (so finden wir in seinem neuesten Werke über die „Poesie" ebensosehr die moderne Literatur bis auf Turgenjew, Björnson, Daudet, Zola, wie die jüngst erschienenen theoretischen Arbeiten eines Steinthal, Siebeck, Fechner verwertet). Diese ihn ganz besonders auszeichnende Eigentümlichkeit, diese akkomodationsfähige Elastizität seines Wesens verdankt er, wenn wir nicht irren, in erster Linie seiner eignen Künstlernatur; hat er sich doch durch seine Gedichte (vergl. Grenz- boten 1883, S. 353 bis 360) als ein Wahrhaft poetischer Geist erwiesen. Er

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/143
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/143>, abgerufen am 22.07.2024.