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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Unser Reichskanzler.

als ihr thatsächlich in den politischen Kreisen Europas zuteil wird. Diejenigen
Mächte wenigstens, welche eine weitere Schwächung der Türkei verhindern "der
aufhalten wollen, müssen die Agitationen nicht außer Acht lassen oder unter¬
schätzen, welche unter den Christen der asiatischen Provinzen Platz greifen. Seit
fünf Jahren hat der Sultan in alleu drei Weltteilen große Läudergebietc ab¬
treten müssen. Auf der Balkanhalbinsel schreitet der Abbröckclungsprvzcß langsam,
aber stetig vorwärts; auch in Afrika ist die Herrschaft des Sultanats durch
das Auftauche" der arabischen Nationalidce tief erschüttert. In Asien war der
Besitzstand der Monarchie bisher durch innere Zersetzung nicht geschwächt. Jetzt
tritt auch hier eine neue Gefahr ans. Wenn die türkischen Staatsmänner Ver¬
ständnis dafür hätten, so würden sie dieselbe durch Befriedigung der Armenier
leicht beseitigen und die Machtstellung der Pforte dort neu begründen können.
Dauert die dilatorische Behandlung aber fort, so ist der Abfall Armeniens mir
noch eine Frage der Zeit.




Unser Reichskanzler.

in Buch, welches eine noch lebende Persönlichkeit zum Gegenstande
hat, macht ans den Leser zunächst einen eigentümlichen, ich möchte
sagen befremdenden Eindrnck. Denn während sonst durch Lektüre
die reine Betrachtung angeregt wird und eben das Objekt, welches
der Schriftsteller behandelt hat, die Aufmerksamkeit auf sich lenkt,
entsteht hier unwillkürlich die Frage nach dem Zweck und nach der Wirkung des
Buches. Wir haben zunächst wohl die Empfindung, es sei nicht sehr diskret,
einem unsrer Mitmenschen, der noch dazu in der höchsten Stellung des Staates
wirkt und schafft, gewissermaßen mit der Laterne ins Gesicht zu leuchten, ihm
in die Karten zu gucken und alles, was sich in seinem öffentlichen und privaten
Leben erforschen laßt, ans dem Markte auszuschreien. Dazu gesellt sich dann
wohl noch der Argwohn, es sei eine politische Demonstration oder ein diplo¬
matischer Schachzuch mit der Veröffentlichung verbunden, und endlich fragen
wir, wie sich der betreffende abkonterfeite Herr zu dein Konterfei stellen möge,
ob er zufrieden oder unzufrieden mit dein Bilde sei, und wie er zu dem Schrift¬
steller stehe, der dies Bild verfertigt. Alle solche Erwägungen haben natur¬
gemäß, mit noch ander" Gedanken und Vermutungen verbunden, schon bei der
Herausgabe des Buches "Graf Bismarck und seine Leute" in der Presse wie im
Privatverkehr vielen Tadel und viele Verdächtigungen auf das Haupt des Bio-


Unser Reichskanzler.

als ihr thatsächlich in den politischen Kreisen Europas zuteil wird. Diejenigen
Mächte wenigstens, welche eine weitere Schwächung der Türkei verhindern »der
aufhalten wollen, müssen die Agitationen nicht außer Acht lassen oder unter¬
schätzen, welche unter den Christen der asiatischen Provinzen Platz greifen. Seit
fünf Jahren hat der Sultan in alleu drei Weltteilen große Läudergebietc ab¬
treten müssen. Auf der Balkanhalbinsel schreitet der Abbröckclungsprvzcß langsam,
aber stetig vorwärts; auch in Afrika ist die Herrschaft des Sultanats durch
das Auftauche» der arabischen Nationalidce tief erschüttert. In Asien war der
Besitzstand der Monarchie bisher durch innere Zersetzung nicht geschwächt. Jetzt
tritt auch hier eine neue Gefahr ans. Wenn die türkischen Staatsmänner Ver¬
ständnis dafür hätten, so würden sie dieselbe durch Befriedigung der Armenier
leicht beseitigen und die Machtstellung der Pforte dort neu begründen können.
Dauert die dilatorische Behandlung aber fort, so ist der Abfall Armeniens mir
noch eine Frage der Zeit.




Unser Reichskanzler.

in Buch, welches eine noch lebende Persönlichkeit zum Gegenstande
hat, macht ans den Leser zunächst einen eigentümlichen, ich möchte
sagen befremdenden Eindrnck. Denn während sonst durch Lektüre
die reine Betrachtung angeregt wird und eben das Objekt, welches
der Schriftsteller behandelt hat, die Aufmerksamkeit auf sich lenkt,
entsteht hier unwillkürlich die Frage nach dem Zweck und nach der Wirkung des
Buches. Wir haben zunächst wohl die Empfindung, es sei nicht sehr diskret,
einem unsrer Mitmenschen, der noch dazu in der höchsten Stellung des Staates
wirkt und schafft, gewissermaßen mit der Laterne ins Gesicht zu leuchten, ihm
in die Karten zu gucken und alles, was sich in seinem öffentlichen und privaten
Leben erforschen laßt, ans dem Markte auszuschreien. Dazu gesellt sich dann
wohl noch der Argwohn, es sei eine politische Demonstration oder ein diplo¬
matischer Schachzuch mit der Veröffentlichung verbunden, und endlich fragen
wir, wie sich der betreffende abkonterfeite Herr zu dein Konterfei stellen möge,
ob er zufrieden oder unzufrieden mit dein Bilde sei, und wie er zu dem Schrift¬
steller stehe, der dies Bild verfertigt. Alle solche Erwägungen haben natur¬
gemäß, mit noch ander» Gedanken und Vermutungen verbunden, schon bei der
Herausgabe des Buches „Graf Bismarck und seine Leute" in der Presse wie im
Privatverkehr vielen Tadel und viele Verdächtigungen auf das Haupt des Bio-


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[0502] Unser Reichskanzler. als ihr thatsächlich in den politischen Kreisen Europas zuteil wird. Diejenigen Mächte wenigstens, welche eine weitere Schwächung der Türkei verhindern »der aufhalten wollen, müssen die Agitationen nicht außer Acht lassen oder unter¬ schätzen, welche unter den Christen der asiatischen Provinzen Platz greifen. Seit fünf Jahren hat der Sultan in alleu drei Weltteilen große Läudergebietc ab¬ treten müssen. Auf der Balkanhalbinsel schreitet der Abbröckclungsprvzcß langsam, aber stetig vorwärts; auch in Afrika ist die Herrschaft des Sultanats durch das Auftauche» der arabischen Nationalidce tief erschüttert. In Asien war der Besitzstand der Monarchie bisher durch innere Zersetzung nicht geschwächt. Jetzt tritt auch hier eine neue Gefahr ans. Wenn die türkischen Staatsmänner Ver¬ ständnis dafür hätten, so würden sie dieselbe durch Befriedigung der Armenier leicht beseitigen und die Machtstellung der Pforte dort neu begründen können. Dauert die dilatorische Behandlung aber fort, so ist der Abfall Armeniens mir noch eine Frage der Zeit. Unser Reichskanzler. in Buch, welches eine noch lebende Persönlichkeit zum Gegenstande hat, macht ans den Leser zunächst einen eigentümlichen, ich möchte sagen befremdenden Eindrnck. Denn während sonst durch Lektüre die reine Betrachtung angeregt wird und eben das Objekt, welches der Schriftsteller behandelt hat, die Aufmerksamkeit auf sich lenkt, entsteht hier unwillkürlich die Frage nach dem Zweck und nach der Wirkung des Buches. Wir haben zunächst wohl die Empfindung, es sei nicht sehr diskret, einem unsrer Mitmenschen, der noch dazu in der höchsten Stellung des Staates wirkt und schafft, gewissermaßen mit der Laterne ins Gesicht zu leuchten, ihm in die Karten zu gucken und alles, was sich in seinem öffentlichen und privaten Leben erforschen laßt, ans dem Markte auszuschreien. Dazu gesellt sich dann wohl noch der Argwohn, es sei eine politische Demonstration oder ein diplo¬ matischer Schachzuch mit der Veröffentlichung verbunden, und endlich fragen wir, wie sich der betreffende abkonterfeite Herr zu dein Konterfei stellen möge, ob er zufrieden oder unzufrieden mit dein Bilde sei, und wie er zu dem Schrift¬ steller stehe, der dies Bild verfertigt. Alle solche Erwägungen haben natur¬ gemäß, mit noch ander» Gedanken und Vermutungen verbunden, schon bei der Herausgabe des Buches „Graf Bismarck und seine Leute" in der Presse wie im Privatverkehr vielen Tadel und viele Verdächtigungen auf das Haupt des Bio-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/502>, abgerufen am 24.08.2024.