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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Rußland und die armenische Frage.

Kriegstheater allenfalls aktiv auftreten und eine Besitznahme des Bosporus mit
den Waffen zu verhindern suchen würde. Die meisten englischen Konsulats-
Pvsten in Armeinen und Kleinasien werden denn auch mit höhern Offizieren,
meist solchen besetzt, welche in der indischen Armee gedient haben und mit den
Verhältnissen des Orients einigermaßen vertraut sind. Die britische Botschaft
in Konstantinopel erhält von diesen Offizieren sehr regelmäßige und eingehende
Berichte über die Zustände in Armenien und die Stimmung der christlichen
Bevölkerung. Diese Berichte bildeten die Unterlage für die Vorstellungen,
weiche das britische Knbinet bei der Pforte erhoben hat.

Es ist begreiflich, daß man in London nicht ohne Besorgnis dem An¬
wachsen des russischen Einflusses in Armenien zusieht und erzürnt ist über die
Indifferenz des Sultans, welche die Bevölkerung einer ganzen, dnrch leicht er¬
füllbare Zugeständnisse zu befriedigenden Provinz in die Arme Rußlands treibt.
Lord Dufferin hat wiederholt den Sultan persönlich darauf aufmerksam gemacht,
daß er Armenien verlieren werde, wenn nicht etwas für die Verbesserung der
dortigen Zustände geschehe. Abdul Hamid ist auch für seine Person nicht ab¬
geneigt, auf solche Reformvorschläge einzugehen. Abendländische Kulturzustände
imponiren ihm, und er würde sie gern auf orientalischen Boden verpflanzen.
Er ist kein Feind der Fremden, wie sein Oheim. Er hat die Unzulänglichkeit
der alttürkischen Staatseinrichtungen recht wohl erkannt. Am liebsten würde er
alles reformiren: Armee, Justiz, Verwaltung. Aber gerade diese Neigung, jede
Reformfrage zu verallgemeinern, das, was für eine Provinz vorgeschlagen ist,
ans alle Teile des Reiches ausdehnen zu wollen, seine Scheu vor langsamem,
stetigem Fortschritt, der Mangel an Sorge im Kleinen, an Verständnis für die
Bedürfnisse des Augenblicks -- alles das hat verhindert, daß irgend eine prak¬
tische Verbesserung in der Provinzialverwaltnng durchgeführt, ja nur ernsthaft
in Angriff genommen worden ist. Weil man alles reformiren wollte, hat man
nichts verbessert. Immer sind es großartige Pläne, durchgreifende Änderungen,
welche von der Regierung aufgestellt worden und deren Durchführung ein ganz
andres Material an Beamten als das thatsächlich vorhandne erheischen würde,
Projekte, welche nicht nur bei diesen einen höhern Grad der Bildung, sondern
auch guten Willen und Eingehen auf die neuen Intentionen voraussetzen. An
diesen beiden Faktoren aber fehlt es vollständig. Der türkische Beamte ist na¬
mentlich in den niedern Graden der geschworne Gegner jeder Neuerung. Bei
dem alten Schlendrian kann er sich halten, unter geschickter Benutzung der Um¬
stände sogar zu den höchsten Stellen gelangen. Eine Verwaltung aber, die
Kenntnisse, Pflichttreue und Ehrlichkeit voraussetzt, drängt ihn aus dem Amte.
Freilich kann sie ohne seine Mitwirkung auch nicht eingeführt werden. In diesem
viroulus vitiosus haben sich seither alle administrativen Reformpläne bewegt.

Die armenische Frage ist noch keine brennende, aber sie enthält Zündstoff
genug, um zu einer solchen zu werden. Sie verdient eine größere Beachtung,


Rußland und die armenische Frage.

Kriegstheater allenfalls aktiv auftreten und eine Besitznahme des Bosporus mit
den Waffen zu verhindern suchen würde. Die meisten englischen Konsulats-
Pvsten in Armeinen und Kleinasien werden denn auch mit höhern Offizieren,
meist solchen besetzt, welche in der indischen Armee gedient haben und mit den
Verhältnissen des Orients einigermaßen vertraut sind. Die britische Botschaft
in Konstantinopel erhält von diesen Offizieren sehr regelmäßige und eingehende
Berichte über die Zustände in Armenien und die Stimmung der christlichen
Bevölkerung. Diese Berichte bildeten die Unterlage für die Vorstellungen,
weiche das britische Knbinet bei der Pforte erhoben hat.

Es ist begreiflich, daß man in London nicht ohne Besorgnis dem An¬
wachsen des russischen Einflusses in Armenien zusieht und erzürnt ist über die
Indifferenz des Sultans, welche die Bevölkerung einer ganzen, dnrch leicht er¬
füllbare Zugeständnisse zu befriedigenden Provinz in die Arme Rußlands treibt.
Lord Dufferin hat wiederholt den Sultan persönlich darauf aufmerksam gemacht,
daß er Armenien verlieren werde, wenn nicht etwas für die Verbesserung der
dortigen Zustände geschehe. Abdul Hamid ist auch für seine Person nicht ab¬
geneigt, auf solche Reformvorschläge einzugehen. Abendländische Kulturzustände
imponiren ihm, und er würde sie gern auf orientalischen Boden verpflanzen.
Er ist kein Feind der Fremden, wie sein Oheim. Er hat die Unzulänglichkeit
der alttürkischen Staatseinrichtungen recht wohl erkannt. Am liebsten würde er
alles reformiren: Armee, Justiz, Verwaltung. Aber gerade diese Neigung, jede
Reformfrage zu verallgemeinern, das, was für eine Provinz vorgeschlagen ist,
ans alle Teile des Reiches ausdehnen zu wollen, seine Scheu vor langsamem,
stetigem Fortschritt, der Mangel an Sorge im Kleinen, an Verständnis für die
Bedürfnisse des Augenblicks — alles das hat verhindert, daß irgend eine prak¬
tische Verbesserung in der Provinzialverwaltnng durchgeführt, ja nur ernsthaft
in Angriff genommen worden ist. Weil man alles reformiren wollte, hat man
nichts verbessert. Immer sind es großartige Pläne, durchgreifende Änderungen,
welche von der Regierung aufgestellt worden und deren Durchführung ein ganz
andres Material an Beamten als das thatsächlich vorhandne erheischen würde,
Projekte, welche nicht nur bei diesen einen höhern Grad der Bildung, sondern
auch guten Willen und Eingehen auf die neuen Intentionen voraussetzen. An
diesen beiden Faktoren aber fehlt es vollständig. Der türkische Beamte ist na¬
mentlich in den niedern Graden der geschworne Gegner jeder Neuerung. Bei
dem alten Schlendrian kann er sich halten, unter geschickter Benutzung der Um¬
stände sogar zu den höchsten Stellen gelangen. Eine Verwaltung aber, die
Kenntnisse, Pflichttreue und Ehrlichkeit voraussetzt, drängt ihn aus dem Amte.
Freilich kann sie ohne seine Mitwirkung auch nicht eingeführt werden. In diesem
viroulus vitiosus haben sich seither alle administrativen Reformpläne bewegt.

Die armenische Frage ist noch keine brennende, aber sie enthält Zündstoff
genug, um zu einer solchen zu werden. Sie verdient eine größere Beachtung,


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[0501] Rußland und die armenische Frage. Kriegstheater allenfalls aktiv auftreten und eine Besitznahme des Bosporus mit den Waffen zu verhindern suchen würde. Die meisten englischen Konsulats- Pvsten in Armeinen und Kleinasien werden denn auch mit höhern Offizieren, meist solchen besetzt, welche in der indischen Armee gedient haben und mit den Verhältnissen des Orients einigermaßen vertraut sind. Die britische Botschaft in Konstantinopel erhält von diesen Offizieren sehr regelmäßige und eingehende Berichte über die Zustände in Armenien und die Stimmung der christlichen Bevölkerung. Diese Berichte bildeten die Unterlage für die Vorstellungen, weiche das britische Knbinet bei der Pforte erhoben hat. Es ist begreiflich, daß man in London nicht ohne Besorgnis dem An¬ wachsen des russischen Einflusses in Armenien zusieht und erzürnt ist über die Indifferenz des Sultans, welche die Bevölkerung einer ganzen, dnrch leicht er¬ füllbare Zugeständnisse zu befriedigenden Provinz in die Arme Rußlands treibt. Lord Dufferin hat wiederholt den Sultan persönlich darauf aufmerksam gemacht, daß er Armenien verlieren werde, wenn nicht etwas für die Verbesserung der dortigen Zustände geschehe. Abdul Hamid ist auch für seine Person nicht ab¬ geneigt, auf solche Reformvorschläge einzugehen. Abendländische Kulturzustände imponiren ihm, und er würde sie gern auf orientalischen Boden verpflanzen. Er ist kein Feind der Fremden, wie sein Oheim. Er hat die Unzulänglichkeit der alttürkischen Staatseinrichtungen recht wohl erkannt. Am liebsten würde er alles reformiren: Armee, Justiz, Verwaltung. Aber gerade diese Neigung, jede Reformfrage zu verallgemeinern, das, was für eine Provinz vorgeschlagen ist, ans alle Teile des Reiches ausdehnen zu wollen, seine Scheu vor langsamem, stetigem Fortschritt, der Mangel an Sorge im Kleinen, an Verständnis für die Bedürfnisse des Augenblicks — alles das hat verhindert, daß irgend eine prak¬ tische Verbesserung in der Provinzialverwaltnng durchgeführt, ja nur ernsthaft in Angriff genommen worden ist. Weil man alles reformiren wollte, hat man nichts verbessert. Immer sind es großartige Pläne, durchgreifende Änderungen, welche von der Regierung aufgestellt worden und deren Durchführung ein ganz andres Material an Beamten als das thatsächlich vorhandne erheischen würde, Projekte, welche nicht nur bei diesen einen höhern Grad der Bildung, sondern auch guten Willen und Eingehen auf die neuen Intentionen voraussetzen. An diesen beiden Faktoren aber fehlt es vollständig. Der türkische Beamte ist na¬ mentlich in den niedern Graden der geschworne Gegner jeder Neuerung. Bei dem alten Schlendrian kann er sich halten, unter geschickter Benutzung der Um¬ stände sogar zu den höchsten Stellen gelangen. Eine Verwaltung aber, die Kenntnisse, Pflichttreue und Ehrlichkeit voraussetzt, drängt ihn aus dem Amte. Freilich kann sie ohne seine Mitwirkung auch nicht eingeführt werden. In diesem viroulus vitiosus haben sich seither alle administrativen Reformpläne bewegt. Die armenische Frage ist noch keine brennende, aber sie enthält Zündstoff genug, um zu einer solchen zu werden. Sie verdient eine größere Beachtung,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/501>, abgerufen am 02.10.2024.