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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Der Hprachenstreit in Österreich.

Megen Ende der sechziger oder zu Anfang der siebziger Jahre ver¬
öffentlichte der tschechische Gelehrte Pnrkyn > eine Broschüre unter
dem Titel ^.ustrig, xol^glott^ Die s. Z. wenig beachtete Schrift
behandelte das Thema, welches kürzlich im österreichischen Reichs¬
rate soviel Staub aufwirbelte. Ich besprach damals die Flug¬
schrift in einem Feuilleton der Neuen freien Presse. Pnrkynö bestrebte sich,
die vollkommene Gleichberechtigung aller österreichischen Nationalitäten und ihrer
Sprachen bis in die letzten Konsequenzen darzuthun. Er erkannte in der "Liebe
und gegenseitigen Achtung aller Volksstämme" des vielsprachigen Reiches das
einzige Mittel, den Hader endgiltig zu schlichten. Zu diesem Zwecke sollte jeder
Österreicher sämtliche Sprachen der Monarchie erlernen, um mit jedem Staats¬
genossen in dessen Muttersprache verkehren zu können. Zum Schlüsse konnte
Purkynö freilich nicht umhin, zu gestehen, daß über der allgemeinen Sprachen-
lernerei denn doch viel kostbare Zeit verloren gehen dürfte. Reiche mit ein¬
heitlicher Sprache würden daher das vielsprachige Österreich im Kulturfortschritte
bald überholen, und schließlich müßte sich das Gefüge des Staates lösen, um
neuen politischen Gebilden Platz zu machen.

Die lange Reichsratsdebatte über die österreichische Staatssprache hat mir
die verschollene Schrift wieder ins Gedächtnis gerufen. Wenn der Staat keine
"Staatssprache" haben soll und darf, so bliebe, falls jedem Österreicher ohne
Unterschied der Nationalität auch in Zukunft in jedem Kronlande die öffentlichen
Ämter zugänglich sein sollen, in der That nichts übrig, als zu dem von Purkynö
empfohlenen Rezepte zu greifen. Da dieses Rezept jedoch materiell nicht zur
Anwendung gebracht werden kann, so komplizirt sich die Frage, wie ein Poly¬
glotter Staat ohne Staatssprache verwaltet werden könne, falls man ihn


Grenzboten I. 1884. 61


Der Hprachenstreit in Österreich.

Megen Ende der sechziger oder zu Anfang der siebziger Jahre ver¬
öffentlichte der tschechische Gelehrte Pnrkyn > eine Broschüre unter
dem Titel ^.ustrig, xol^glott^ Die s. Z. wenig beachtete Schrift
behandelte das Thema, welches kürzlich im österreichischen Reichs¬
rate soviel Staub aufwirbelte. Ich besprach damals die Flug¬
schrift in einem Feuilleton der Neuen freien Presse. Pnrkynö bestrebte sich,
die vollkommene Gleichberechtigung aller österreichischen Nationalitäten und ihrer
Sprachen bis in die letzten Konsequenzen darzuthun. Er erkannte in der „Liebe
und gegenseitigen Achtung aller Volksstämme" des vielsprachigen Reiches das
einzige Mittel, den Hader endgiltig zu schlichten. Zu diesem Zwecke sollte jeder
Österreicher sämtliche Sprachen der Monarchie erlernen, um mit jedem Staats¬
genossen in dessen Muttersprache verkehren zu können. Zum Schlüsse konnte
Purkynö freilich nicht umhin, zu gestehen, daß über der allgemeinen Sprachen-
lernerei denn doch viel kostbare Zeit verloren gehen dürfte. Reiche mit ein¬
heitlicher Sprache würden daher das vielsprachige Österreich im Kulturfortschritte
bald überholen, und schließlich müßte sich das Gefüge des Staates lösen, um
neuen politischen Gebilden Platz zu machen.

Die lange Reichsratsdebatte über die österreichische Staatssprache hat mir
die verschollene Schrift wieder ins Gedächtnis gerufen. Wenn der Staat keine
„Staatssprache" haben soll und darf, so bliebe, falls jedem Österreicher ohne
Unterschied der Nationalität auch in Zukunft in jedem Kronlande die öffentlichen
Ämter zugänglich sein sollen, in der That nichts übrig, als zu dem von Purkynö
empfohlenen Rezepte zu greifen. Da dieses Rezept jedoch materiell nicht zur
Anwendung gebracht werden kann, so komplizirt sich die Frage, wie ein Poly¬
glotter Staat ohne Staatssprache verwaltet werden könne, falls man ihn


Grenzboten I. 1884. 61
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[0491] [Abbildung] Der Hprachenstreit in Österreich. Megen Ende der sechziger oder zu Anfang der siebziger Jahre ver¬ öffentlichte der tschechische Gelehrte Pnrkyn > eine Broschüre unter dem Titel ^.ustrig, xol^glott^ Die s. Z. wenig beachtete Schrift behandelte das Thema, welches kürzlich im österreichischen Reichs¬ rate soviel Staub aufwirbelte. Ich besprach damals die Flug¬ schrift in einem Feuilleton der Neuen freien Presse. Pnrkynö bestrebte sich, die vollkommene Gleichberechtigung aller österreichischen Nationalitäten und ihrer Sprachen bis in die letzten Konsequenzen darzuthun. Er erkannte in der „Liebe und gegenseitigen Achtung aller Volksstämme" des vielsprachigen Reiches das einzige Mittel, den Hader endgiltig zu schlichten. Zu diesem Zwecke sollte jeder Österreicher sämtliche Sprachen der Monarchie erlernen, um mit jedem Staats¬ genossen in dessen Muttersprache verkehren zu können. Zum Schlüsse konnte Purkynö freilich nicht umhin, zu gestehen, daß über der allgemeinen Sprachen- lernerei denn doch viel kostbare Zeit verloren gehen dürfte. Reiche mit ein¬ heitlicher Sprache würden daher das vielsprachige Österreich im Kulturfortschritte bald überholen, und schließlich müßte sich das Gefüge des Staates lösen, um neuen politischen Gebilden Platz zu machen. Die lange Reichsratsdebatte über die österreichische Staatssprache hat mir die verschollene Schrift wieder ins Gedächtnis gerufen. Wenn der Staat keine „Staatssprache" haben soll und darf, so bliebe, falls jedem Österreicher ohne Unterschied der Nationalität auch in Zukunft in jedem Kronlande die öffentlichen Ämter zugänglich sein sollen, in der That nichts übrig, als zu dem von Purkynö empfohlenen Rezepte zu greifen. Da dieses Rezept jedoch materiell nicht zur Anwendung gebracht werden kann, so komplizirt sich die Frage, wie ein Poly¬ glotter Staat ohne Staatssprache verwaltet werden könne, falls man ihn Grenzboten I. 1884. 61

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/491>, abgerufen am 27.06.2024.