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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Der Notstand in Paris.

cum Frankreich sich zufrieden fühlt, so ist die Welt ruhig, sagte
einst der Kaiser Louis Napoleon, der nach Tocquevilles Ausspruch
ein Meister im "monumentalen Französisch" war, und es leidet
keinen Zweifel, daß jenes Diktum insoweit richtig ist, als, wenn
Paris, welches Frankreich bedeutet, zu murren beginnt, ganz
Europa die Ohren spitzt. Das ist gegenwärtig der Fall. Es herrscht seit einiger
Zeit in der Hauptstadt der Republik eine Krisis, die bis jetzt zwar nur wirt¬
schaftlicher Natur ist, nur auf gewerblichen Gebiete sich entwickelt hat; aber die
betreffenden ökonomischen und sozialen Fragen gehen in einer Stadt, wo an
hundert Stellen vulkanische Gluten glimmen, leicht in politische über. Die Suche
ist wohl noch nicht so schlimm, wie manche Artikel in deutschen Blättern sie
darstellen, dennoch verdient sie Beachtung, zumal da die Herren Gesetzgeber im
Palais Bourbon es sür geboten hielten, eine ganze Woche über sie zu ver¬
handeln. Der Notstand, über den sie debattirten, existirt unzweifelhaft, aber
wohl nicht in viel größerm Maße, als in jedem Winter der letzten Jahre. Die
Industrie liegt in vielen ihrer Zweige darnieder, und infolge dessen herrscht in
den Kreisen der arbeitenden Bevölkerung viel Elend. Aber niemand weiß recht,
wie dem Übel zu steuern wäre. Auch die Kammer wußte es nicht, obwohl
Vorschlüge zur Abhilfe genug laut wurden. Einer der Redner riet zur Erhöhung
der Schutzzölle, die in Frankreich schon sehr hoch sind, ein bonapartistischer
Abgeordneter erblickte das einzige Heilmittel in der Wiederaufrichtung des
Kaisertums, ein Parteigeuosse desselben meinte, die Wurzel des Übels sei in
der Genußsucht der arbeitenden Klassen zu suchen, ein Ultramontaner wies auf
die Kirche hin, die hier am besten Hilfe spenden könne, und wollte nebenbei die
Frage einem europäischen Kongresse zu internationaler Regelung vorgelegt sehen.
Tory Revillon, der radikale Deputirte der Vorstadt Belleville, verlangte Ein¬
schreiten des Staates, die Regierung sollte nach seiner Meinung eine Reihe
öffentlicher Arbeiten, z. B. die Pariser Stadtbahn, in Angriff nehmen und das
Marsfeld zur Bebauung mit wohlfeilen Wohnungen verkaufen. Der Minister
Ferry zeigte in längerer Rede, daß der Notstand nicht so schwer sei, wie man
ihn darstelle, und daß ihm mit den Vorschlägen, die gemacht worden, nicht ab¬
geholfen werden könne.

Sehen wir uns die Sache näher an. Der Notstand in Paris ist zum
großen Teile eine Folge der Politik Napoleons des Dritten und des Barons


Grenzboten I. 1884, 45
Der Notstand in Paris.

cum Frankreich sich zufrieden fühlt, so ist die Welt ruhig, sagte
einst der Kaiser Louis Napoleon, der nach Tocquevilles Ausspruch
ein Meister im „monumentalen Französisch" war, und es leidet
keinen Zweifel, daß jenes Diktum insoweit richtig ist, als, wenn
Paris, welches Frankreich bedeutet, zu murren beginnt, ganz
Europa die Ohren spitzt. Das ist gegenwärtig der Fall. Es herrscht seit einiger
Zeit in der Hauptstadt der Republik eine Krisis, die bis jetzt zwar nur wirt¬
schaftlicher Natur ist, nur auf gewerblichen Gebiete sich entwickelt hat; aber die
betreffenden ökonomischen und sozialen Fragen gehen in einer Stadt, wo an
hundert Stellen vulkanische Gluten glimmen, leicht in politische über. Die Suche
ist wohl noch nicht so schlimm, wie manche Artikel in deutschen Blättern sie
darstellen, dennoch verdient sie Beachtung, zumal da die Herren Gesetzgeber im
Palais Bourbon es sür geboten hielten, eine ganze Woche über sie zu ver¬
handeln. Der Notstand, über den sie debattirten, existirt unzweifelhaft, aber
wohl nicht in viel größerm Maße, als in jedem Winter der letzten Jahre. Die
Industrie liegt in vielen ihrer Zweige darnieder, und infolge dessen herrscht in
den Kreisen der arbeitenden Bevölkerung viel Elend. Aber niemand weiß recht,
wie dem Übel zu steuern wäre. Auch die Kammer wußte es nicht, obwohl
Vorschlüge zur Abhilfe genug laut wurden. Einer der Redner riet zur Erhöhung
der Schutzzölle, die in Frankreich schon sehr hoch sind, ein bonapartistischer
Abgeordneter erblickte das einzige Heilmittel in der Wiederaufrichtung des
Kaisertums, ein Parteigeuosse desselben meinte, die Wurzel des Übels sei in
der Genußsucht der arbeitenden Klassen zu suchen, ein Ultramontaner wies auf
die Kirche hin, die hier am besten Hilfe spenden könne, und wollte nebenbei die
Frage einem europäischen Kongresse zu internationaler Regelung vorgelegt sehen.
Tory Revillon, der radikale Deputirte der Vorstadt Belleville, verlangte Ein¬
schreiten des Staates, die Regierung sollte nach seiner Meinung eine Reihe
öffentlicher Arbeiten, z. B. die Pariser Stadtbahn, in Angriff nehmen und das
Marsfeld zur Bebauung mit wohlfeilen Wohnungen verkaufen. Der Minister
Ferry zeigte in längerer Rede, daß der Notstand nicht so schwer sei, wie man
ihn darstelle, und daß ihm mit den Vorschlägen, die gemacht worden, nicht ab¬
geholfen werden könne.

Sehen wir uns die Sache näher an. Der Notstand in Paris ist zum
großen Teile eine Folge der Politik Napoleons des Dritten und des Barons


Grenzboten I. 1884, 45
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[0363] Der Notstand in Paris. cum Frankreich sich zufrieden fühlt, so ist die Welt ruhig, sagte einst der Kaiser Louis Napoleon, der nach Tocquevilles Ausspruch ein Meister im „monumentalen Französisch" war, und es leidet keinen Zweifel, daß jenes Diktum insoweit richtig ist, als, wenn Paris, welches Frankreich bedeutet, zu murren beginnt, ganz Europa die Ohren spitzt. Das ist gegenwärtig der Fall. Es herrscht seit einiger Zeit in der Hauptstadt der Republik eine Krisis, die bis jetzt zwar nur wirt¬ schaftlicher Natur ist, nur auf gewerblichen Gebiete sich entwickelt hat; aber die betreffenden ökonomischen und sozialen Fragen gehen in einer Stadt, wo an hundert Stellen vulkanische Gluten glimmen, leicht in politische über. Die Suche ist wohl noch nicht so schlimm, wie manche Artikel in deutschen Blättern sie darstellen, dennoch verdient sie Beachtung, zumal da die Herren Gesetzgeber im Palais Bourbon es sür geboten hielten, eine ganze Woche über sie zu ver¬ handeln. Der Notstand, über den sie debattirten, existirt unzweifelhaft, aber wohl nicht in viel größerm Maße, als in jedem Winter der letzten Jahre. Die Industrie liegt in vielen ihrer Zweige darnieder, und infolge dessen herrscht in den Kreisen der arbeitenden Bevölkerung viel Elend. Aber niemand weiß recht, wie dem Übel zu steuern wäre. Auch die Kammer wußte es nicht, obwohl Vorschlüge zur Abhilfe genug laut wurden. Einer der Redner riet zur Erhöhung der Schutzzölle, die in Frankreich schon sehr hoch sind, ein bonapartistischer Abgeordneter erblickte das einzige Heilmittel in der Wiederaufrichtung des Kaisertums, ein Parteigeuosse desselben meinte, die Wurzel des Übels sei in der Genußsucht der arbeitenden Klassen zu suchen, ein Ultramontaner wies auf die Kirche hin, die hier am besten Hilfe spenden könne, und wollte nebenbei die Frage einem europäischen Kongresse zu internationaler Regelung vorgelegt sehen. Tory Revillon, der radikale Deputirte der Vorstadt Belleville, verlangte Ein¬ schreiten des Staates, die Regierung sollte nach seiner Meinung eine Reihe öffentlicher Arbeiten, z. B. die Pariser Stadtbahn, in Angriff nehmen und das Marsfeld zur Bebauung mit wohlfeilen Wohnungen verkaufen. Der Minister Ferry zeigte in längerer Rede, daß der Notstand nicht so schwer sei, wie man ihn darstelle, und daß ihm mit den Vorschlägen, die gemacht worden, nicht ab¬ geholfen werden könne. Sehen wir uns die Sache näher an. Der Notstand in Paris ist zum großen Teile eine Folge der Politik Napoleons des Dritten und des Barons Grenzboten I. 1884, 45

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/363>, abgerufen am 27.06.2024.