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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Die jüdische Ginwanderung in Deutschland.

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c^.MGn einem seiner Aufsätze über die Judenfrage hatte Treitschke be¬
hauptet, daß jährlich eine "große Schar strebsamer hosen-
verkaufcnder Jünglinge" über unsre Ostgrenze aus der uner¬
schöpflichen polnischen Wiege hereinströme. Die jüdische Presse
bewies darauf mit einem großen Aufwand an Worten und
moralischer Entrüstung, daß jene Masseneinwanderung garnicht stattfinde, wobei
sie verschwieg, daß sich thatsächlich eine sehr bedeutende Verschiebung des jü¬
dischen Elementes aus den deutsch-polnischen Provinzen nach Mitteldeutschland
und besonders nach Berlin nachweisen läßt. Aber Treitschkes Behauptung war
keineswegs eine irrige. Die Beweise für dieselbe, welche die soeben erschienene
Schrift: "Zur Geschichte der Entwicklung deutscher, polnischer und jüdischer
Bevölkerung in der Provinz Posen von Eugen v, Bergmann"^) beibringt, sind
unanfechtbar und werden hinfort bei Beurteilung der Sache Beachtung finden
müssen.

Untersuchen wir an der Hand des Verfassers zunächst die Zeit und die
Ursachen, welchen die Provinz Posen ihre starke jüdische Bevölkerung zu ver-
danken hat. Seit Polen im zehnten Jahrhunderte der Verkehr mit den west¬
licher gelegnen Ländern eröffnet worden war, fingen ungefähr gleichzeitig mit
den Deutschen auch Juden an, hierher auszuwandern, da Polen bei seinen:
Mangel an einem Mittelstande von Handwerkern und Kaufleuten ihrem Unter¬
nehmungsgeist"! ein reich lohnendes Feld der Thätigkeit darbot. Der Hauptmasse
nach aber zogen sie erst im dreizehnten Jahrhunderte und den nächstfolgenden
in diese Gegenden, indem sie in dieser Periode in den meisten Staaten West-
nnd Mitteleuropas arger Bedrückung und Verfolgung ausgesetzt, in Polen aber
vielfach begünstigt waren, wie sie denn den Kontusch der polnischen Edelleute,
d.h. den langen Rock mit Schlitzärmeln, und den Säbel an der Seite tragen
durften und, wenn sie sich taufen ließen, sofort zum Adel zählten. Schon im
Jahre 1264 hatte Boleslaus Pius, Herzog von Kalisch und Großpolen, ihnen
durch ein besondres Statut, welches der 1244 erlassenen Judenverordnung des
Erzherzogs Friedrichs des streitbaren von Österreich nachgebildet war, Rechts¬
schutz und Handelsfreiheit verliehen, und diese Privilegien waren von Kasimir
dem Großen 1334 bestätigt und auf ganz Polen ausgedehnt und von späteren



5) Dieselbe bildet den ersten Band von Fr, I. Neumanns statistischen Werte: "Bei¬
träge zur Geschichte der Bevölkerung in Deutschland seit dem Anfange dieses Jahrhunderts"
und ist im Verlage der Lauppschen Buchhandlung in Tübingen erschienen.
Die jüdische Ginwanderung in Deutschland.

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c^.MGn einem seiner Aufsätze über die Judenfrage hatte Treitschke be¬
hauptet, daß jährlich eine „große Schar strebsamer hosen-
verkaufcnder Jünglinge" über unsre Ostgrenze aus der uner¬
schöpflichen polnischen Wiege hereinströme. Die jüdische Presse
bewies darauf mit einem großen Aufwand an Worten und
moralischer Entrüstung, daß jene Masseneinwanderung garnicht stattfinde, wobei
sie verschwieg, daß sich thatsächlich eine sehr bedeutende Verschiebung des jü¬
dischen Elementes aus den deutsch-polnischen Provinzen nach Mitteldeutschland
und besonders nach Berlin nachweisen läßt. Aber Treitschkes Behauptung war
keineswegs eine irrige. Die Beweise für dieselbe, welche die soeben erschienene
Schrift: „Zur Geschichte der Entwicklung deutscher, polnischer und jüdischer
Bevölkerung in der Provinz Posen von Eugen v, Bergmann"^) beibringt, sind
unanfechtbar und werden hinfort bei Beurteilung der Sache Beachtung finden
müssen.

Untersuchen wir an der Hand des Verfassers zunächst die Zeit und die
Ursachen, welchen die Provinz Posen ihre starke jüdische Bevölkerung zu ver-
danken hat. Seit Polen im zehnten Jahrhunderte der Verkehr mit den west¬
licher gelegnen Ländern eröffnet worden war, fingen ungefähr gleichzeitig mit
den Deutschen auch Juden an, hierher auszuwandern, da Polen bei seinen:
Mangel an einem Mittelstande von Handwerkern und Kaufleuten ihrem Unter¬
nehmungsgeist«! ein reich lohnendes Feld der Thätigkeit darbot. Der Hauptmasse
nach aber zogen sie erst im dreizehnten Jahrhunderte und den nächstfolgenden
in diese Gegenden, indem sie in dieser Periode in den meisten Staaten West-
nnd Mitteleuropas arger Bedrückung und Verfolgung ausgesetzt, in Polen aber
vielfach begünstigt waren, wie sie denn den Kontusch der polnischen Edelleute,
d.h. den langen Rock mit Schlitzärmeln, und den Säbel an der Seite tragen
durften und, wenn sie sich taufen ließen, sofort zum Adel zählten. Schon im
Jahre 1264 hatte Boleslaus Pius, Herzog von Kalisch und Großpolen, ihnen
durch ein besondres Statut, welches der 1244 erlassenen Judenverordnung des
Erzherzogs Friedrichs des streitbaren von Österreich nachgebildet war, Rechts¬
schutz und Handelsfreiheit verliehen, und diese Privilegien waren von Kasimir
dem Großen 1334 bestätigt und auf ganz Polen ausgedehnt und von späteren



5) Dieselbe bildet den ersten Band von Fr, I. Neumanns statistischen Werte: „Bei¬
träge zur Geschichte der Bevölkerung in Deutschland seit dem Anfange dieses Jahrhunderts"
und ist im Verlage der Lauppschen Buchhandlung in Tübingen erschienen.
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[0288] Die jüdische Ginwanderung in Deutschland. WWW'Aso 'AU (^lDOM! WI< c^.MGn einem seiner Aufsätze über die Judenfrage hatte Treitschke be¬ hauptet, daß jährlich eine „große Schar strebsamer hosen- verkaufcnder Jünglinge" über unsre Ostgrenze aus der uner¬ schöpflichen polnischen Wiege hereinströme. Die jüdische Presse bewies darauf mit einem großen Aufwand an Worten und moralischer Entrüstung, daß jene Masseneinwanderung garnicht stattfinde, wobei sie verschwieg, daß sich thatsächlich eine sehr bedeutende Verschiebung des jü¬ dischen Elementes aus den deutsch-polnischen Provinzen nach Mitteldeutschland und besonders nach Berlin nachweisen läßt. Aber Treitschkes Behauptung war keineswegs eine irrige. Die Beweise für dieselbe, welche die soeben erschienene Schrift: „Zur Geschichte der Entwicklung deutscher, polnischer und jüdischer Bevölkerung in der Provinz Posen von Eugen v, Bergmann"^) beibringt, sind unanfechtbar und werden hinfort bei Beurteilung der Sache Beachtung finden müssen. Untersuchen wir an der Hand des Verfassers zunächst die Zeit und die Ursachen, welchen die Provinz Posen ihre starke jüdische Bevölkerung zu ver- danken hat. Seit Polen im zehnten Jahrhunderte der Verkehr mit den west¬ licher gelegnen Ländern eröffnet worden war, fingen ungefähr gleichzeitig mit den Deutschen auch Juden an, hierher auszuwandern, da Polen bei seinen: Mangel an einem Mittelstande von Handwerkern und Kaufleuten ihrem Unter¬ nehmungsgeist«! ein reich lohnendes Feld der Thätigkeit darbot. Der Hauptmasse nach aber zogen sie erst im dreizehnten Jahrhunderte und den nächstfolgenden in diese Gegenden, indem sie in dieser Periode in den meisten Staaten West- nnd Mitteleuropas arger Bedrückung und Verfolgung ausgesetzt, in Polen aber vielfach begünstigt waren, wie sie denn den Kontusch der polnischen Edelleute, d.h. den langen Rock mit Schlitzärmeln, und den Säbel an der Seite tragen durften und, wenn sie sich taufen ließen, sofort zum Adel zählten. Schon im Jahre 1264 hatte Boleslaus Pius, Herzog von Kalisch und Großpolen, ihnen durch ein besondres Statut, welches der 1244 erlassenen Judenverordnung des Erzherzogs Friedrichs des streitbaren von Österreich nachgebildet war, Rechts¬ schutz und Handelsfreiheit verliehen, und diese Privilegien waren von Kasimir dem Großen 1334 bestätigt und auf ganz Polen ausgedehnt und von späteren 5) Dieselbe bildet den ersten Band von Fr, I. Neumanns statistischen Werte: „Bei¬ träge zur Geschichte der Bevölkerung in Deutschland seit dem Anfange dieses Jahrhunderts" und ist im Verlage der Lauppschen Buchhandlung in Tübingen erschienen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/288>, abgerufen am 27.06.2024.