Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die niederländische Genre- und Tandschaftsmalerei.
von Adolf Rosenberg, 1.
Der Charakter des Landes, Der nordische Realismus. Die Anfänge des Sittenbildes und
der Landschaft.

cum man nach dem Grunde fragt, weshalb sich gerade inmitten
einer Bevölkerung, welche um alle Bedingungen des menschlichen
Daseins die schwersten nud hartnäckigsten Kämpfe zu bestehen
hatte, die Kunst und insbesondere die Malerei so reich und üppig
entfalten konnten wie in keinem zweiten Lande der Welt, Italien
nicht ausgenommen, so wird die Wissenschaft der Völkerpsychologie schwerlich
eine befriedigende Antwort auf diese Frage geben können. Die klimatischen
Verhältnisse und die des Bodens haben dieses Wunder allein nicht zuwege
gebracht. Denn dieselben Verhältnisse finden sich auch i" andern Ländern, in
welchen gleichwohl die Kunst niemals Wurzel geschlagen hat. Die Feuchtigkeit
der Atmosphäre und der durch sie erzeugte silberne Glanz der Luft, welche der
farbigen Oberfläche eine große Frische und einen satten, leuchtenden Ton ver¬
leihen, haben unzweifelhaft einen starken Einfluß auf die Entwicklung des Farben¬
sinnes unter den niederländischen Malern geübt. Das lehrt uns eine Analogie
auf italienischem Boden, die Kunststadt Venedig, zu welcher auf nordischem
Boden Amsterdam das Seitenstück bildet. Der Wasserdunst, welcher ans den
Lagunen nud den Kanälen emporsteigt und die Luft beständig mit Feuchtigkeit
sättigt, hat den Grund gelegt zu der intensiven Farbenglut und der sonoren
Harmonie der Töne, durch welche sich die venezianische Malerschule vor allen
übrigen Kunstschulen Italiens auszeichnet. Aber gerade das Beispiel Venedigs
zeigt uns auch, daß gleiche klimatische Voraussetzungen nicht zu gleichen Ergeb¬
nissen führen. Wohl offenbart sich in der venezianischen Malerei ein stärkerer
realistischer Zug, als wir ihn in den übrigen Malerschulen Italiens finden.
Aber im Vergleich zur holländischen Malerei hat die venezianische ein durchaus
idealistisches Gepräge. Es müssen also andre Momente hinzugetreten sein, um
der ersteren denjenigen Charakter zu geben, welchen sie, vorübergehende Schwan¬
kungen abgerechnet, immer bewahrt hat. Diese und andre Momente können aber
nur wirksam gewesen sein, wo eine gewisse Empfänglichkeit, eine natürliche Be-


Die niederländische Genre- und Tandschaftsmalerei.
von Adolf Rosenberg, 1.
Der Charakter des Landes, Der nordische Realismus. Die Anfänge des Sittenbildes und
der Landschaft.

cum man nach dem Grunde fragt, weshalb sich gerade inmitten
einer Bevölkerung, welche um alle Bedingungen des menschlichen
Daseins die schwersten nud hartnäckigsten Kämpfe zu bestehen
hatte, die Kunst und insbesondere die Malerei so reich und üppig
entfalten konnten wie in keinem zweiten Lande der Welt, Italien
nicht ausgenommen, so wird die Wissenschaft der Völkerpsychologie schwerlich
eine befriedigende Antwort auf diese Frage geben können. Die klimatischen
Verhältnisse und die des Bodens haben dieses Wunder allein nicht zuwege
gebracht. Denn dieselben Verhältnisse finden sich auch i» andern Ländern, in
welchen gleichwohl die Kunst niemals Wurzel geschlagen hat. Die Feuchtigkeit
der Atmosphäre und der durch sie erzeugte silberne Glanz der Luft, welche der
farbigen Oberfläche eine große Frische und einen satten, leuchtenden Ton ver¬
leihen, haben unzweifelhaft einen starken Einfluß auf die Entwicklung des Farben¬
sinnes unter den niederländischen Malern geübt. Das lehrt uns eine Analogie
auf italienischem Boden, die Kunststadt Venedig, zu welcher auf nordischem
Boden Amsterdam das Seitenstück bildet. Der Wasserdunst, welcher ans den
Lagunen nud den Kanälen emporsteigt und die Luft beständig mit Feuchtigkeit
sättigt, hat den Grund gelegt zu der intensiven Farbenglut und der sonoren
Harmonie der Töne, durch welche sich die venezianische Malerschule vor allen
übrigen Kunstschulen Italiens auszeichnet. Aber gerade das Beispiel Venedigs
zeigt uns auch, daß gleiche klimatische Voraussetzungen nicht zu gleichen Ergeb¬
nissen führen. Wohl offenbart sich in der venezianischen Malerei ein stärkerer
realistischer Zug, als wir ihn in den übrigen Malerschulen Italiens finden.
Aber im Vergleich zur holländischen Malerei hat die venezianische ein durchaus
idealistisches Gepräge. Es müssen also andre Momente hinzugetreten sein, um
der ersteren denjenigen Charakter zu geben, welchen sie, vorübergehende Schwan¬
kungen abgerechnet, immer bewahrt hat. Diese und andre Momente können aber
nur wirksam gewesen sein, wo eine gewisse Empfänglichkeit, eine natürliche Be-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0242" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/155125"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die niederländische Genre- und Tandschaftsmalerei.<lb/><note type="byline"> von Adolf Rosenberg,</note> 1.<lb/>
Der Charakter des Landes, Der nordische Realismus. Die Anfänge des Sittenbildes und<lb/>
der Landschaft.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_995" next="#ID_996"> cum man nach dem Grunde fragt, weshalb sich gerade inmitten<lb/>
einer Bevölkerung, welche um alle Bedingungen des menschlichen<lb/>
Daseins die schwersten nud hartnäckigsten Kämpfe zu bestehen<lb/>
hatte, die Kunst und insbesondere die Malerei so reich und üppig<lb/>
entfalten konnten wie in keinem zweiten Lande der Welt, Italien<lb/>
nicht ausgenommen, so wird die Wissenschaft der Völkerpsychologie schwerlich<lb/>
eine befriedigende Antwort auf diese Frage geben können. Die klimatischen<lb/>
Verhältnisse und die des Bodens haben dieses Wunder allein nicht zuwege<lb/>
gebracht. Denn dieselben Verhältnisse finden sich auch i» andern Ländern, in<lb/>
welchen gleichwohl die Kunst niemals Wurzel geschlagen hat. Die Feuchtigkeit<lb/>
der Atmosphäre und der durch sie erzeugte silberne Glanz der Luft, welche der<lb/>
farbigen Oberfläche eine große Frische und einen satten, leuchtenden Ton ver¬<lb/>
leihen, haben unzweifelhaft einen starken Einfluß auf die Entwicklung des Farben¬<lb/>
sinnes unter den niederländischen Malern geübt. Das lehrt uns eine Analogie<lb/>
auf italienischem Boden, die Kunststadt Venedig, zu welcher auf nordischem<lb/>
Boden Amsterdam das Seitenstück bildet. Der Wasserdunst, welcher ans den<lb/>
Lagunen nud den Kanälen emporsteigt und die Luft beständig mit Feuchtigkeit<lb/>
sättigt, hat den Grund gelegt zu der intensiven Farbenglut und der sonoren<lb/>
Harmonie der Töne, durch welche sich die venezianische Malerschule vor allen<lb/>
übrigen Kunstschulen Italiens auszeichnet. Aber gerade das Beispiel Venedigs<lb/>
zeigt uns auch, daß gleiche klimatische Voraussetzungen nicht zu gleichen Ergeb¬<lb/>
nissen führen. Wohl offenbart sich in der venezianischen Malerei ein stärkerer<lb/>
realistischer Zug, als wir ihn in den übrigen Malerschulen Italiens finden.<lb/>
Aber im Vergleich zur holländischen Malerei hat die venezianische ein durchaus<lb/>
idealistisches Gepräge. Es müssen also andre Momente hinzugetreten sein, um<lb/>
der ersteren denjenigen Charakter zu geben, welchen sie, vorübergehende Schwan¬<lb/>
kungen abgerechnet, immer bewahrt hat. Diese und andre Momente können aber<lb/>
nur wirksam gewesen sein, wo eine gewisse Empfänglichkeit, eine natürliche Be-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0242] Die niederländische Genre- und Tandschaftsmalerei. von Adolf Rosenberg, 1. Der Charakter des Landes, Der nordische Realismus. Die Anfänge des Sittenbildes und der Landschaft. cum man nach dem Grunde fragt, weshalb sich gerade inmitten einer Bevölkerung, welche um alle Bedingungen des menschlichen Daseins die schwersten nud hartnäckigsten Kämpfe zu bestehen hatte, die Kunst und insbesondere die Malerei so reich und üppig entfalten konnten wie in keinem zweiten Lande der Welt, Italien nicht ausgenommen, so wird die Wissenschaft der Völkerpsychologie schwerlich eine befriedigende Antwort auf diese Frage geben können. Die klimatischen Verhältnisse und die des Bodens haben dieses Wunder allein nicht zuwege gebracht. Denn dieselben Verhältnisse finden sich auch i» andern Ländern, in welchen gleichwohl die Kunst niemals Wurzel geschlagen hat. Die Feuchtigkeit der Atmosphäre und der durch sie erzeugte silberne Glanz der Luft, welche der farbigen Oberfläche eine große Frische und einen satten, leuchtenden Ton ver¬ leihen, haben unzweifelhaft einen starken Einfluß auf die Entwicklung des Farben¬ sinnes unter den niederländischen Malern geübt. Das lehrt uns eine Analogie auf italienischem Boden, die Kunststadt Venedig, zu welcher auf nordischem Boden Amsterdam das Seitenstück bildet. Der Wasserdunst, welcher ans den Lagunen nud den Kanälen emporsteigt und die Luft beständig mit Feuchtigkeit sättigt, hat den Grund gelegt zu der intensiven Farbenglut und der sonoren Harmonie der Töne, durch welche sich die venezianische Malerschule vor allen übrigen Kunstschulen Italiens auszeichnet. Aber gerade das Beispiel Venedigs zeigt uns auch, daß gleiche klimatische Voraussetzungen nicht zu gleichen Ergeb¬ nissen führen. Wohl offenbart sich in der venezianischen Malerei ein stärkerer realistischer Zug, als wir ihn in den übrigen Malerschulen Italiens finden. Aber im Vergleich zur holländischen Malerei hat die venezianische ein durchaus idealistisches Gepräge. Es müssen also andre Momente hinzugetreten sein, um der ersteren denjenigen Charakter zu geben, welchen sie, vorübergehende Schwan¬ kungen abgerechnet, immer bewahrt hat. Diese und andre Momente können aber nur wirksam gewesen sein, wo eine gewisse Empfänglichkeit, eine natürliche Be-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/242
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/242>, abgerufen am 27.06.2024.