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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Italienische Zustände.

is der Hausnarr des Ottavio Piccolomini, der die Abenteuer
seines vielbewegten Lebens im Jahre 1645 beschrieb, die Stadt
Avignon betreten wollte, schössen die Thorwächter zweimal auf
ihn und zwangen ihn, weil er keinen Gesnndheitspaß (oolstA as
8g,iMg,ä) hatte, zu schleuniger Umkehr; auch Lyon hatte der Pest
wegen seine Thore geschlossen -- kurz, es ging damals in Frankreich ebenso zu,
wie im vergangenen Sommer in Italien, wo die Eisenbahnzüge nicht nur in
Unteritalien, sondern einmal sogar in Civitavecchia mit Kugeln oder Steinen
empfangen wurden, und ein Reisender, der Orvieto besuchen wollte, am ersten
Thore abgewiesen, rund um die Stadt ging, ohne Einlaß zu finden.

Italien ist für so unzählige Deutsche das Land der Verheißung, daß man
gern mich bei längerem Aufenthalte über Mängel hinwegsieht, welche man in
der Heimat als unerträglich empfinden würde. Kommt aber eine besonders
starke Aufregung in das Volk, wie es die Cholerafurcht in den Monaten
Juli bis September war, so treten Züge weniger des Volkscharakters als
der staatlichen Einrichtungen so offen zu tage, daß man plötzlich im Mittelalter
zu stehen meint, und der schöne Traum staatlicher Einheit und gesetzmäßiger
Regierung mit einem Schlage zerstört wird.

Der Hauptgrund für die Erscheinungen, welche alle einsichtigen Italiener
ebenso wie die wahren Freunde des Landes mit der größten Besorgnis für die
gesunde Entwicklung Italiens erfüllten, liegt in der Schwäche der Regierung.
Die Advokaten, welche das wechselnde Spiel der parlamentarischen Majoritäten
augenblicklich ans die Miuisterstühle gehoben hatte, brachten erst der öffentlichen
Feigheit die Landquarantäne zum Geschenk, dann gestatteten sie der lokalen
Furcht und der wilden munizipcilen Selbstsucht, die ganzen Verhältnisse des
Landes zu zerrütten. Als der heftige Ausbruch in Spezia erfolgt war, schlössen
zahlreiche Städte ihre Thore. Man hätte glauben sollen, daß der erste Sindaco,
der sich unterstand, die Landesgesetze in so frecher Weise zu übertreten, von
dem Minister des Innern sofort telegraphisch abgesetzt werden würde. Aber
nein: der Minister wartete vierzehn Tage, das heißt er wünschte die öffentliche
Meinung kennen zu lernen, und endlich, als alle anständigen Zeitungen die
städtischen Absperrungen in den stärksten Ausdrücken verdammten, erließ sein
Generalsekretär Mornna ein Zirkular, wonach die munizipalc Jsolirung nicht
etwa völlig verboten, sondern nur beschränkt und den Gemeinden gestattet wurde,


Italienische Zustände.

is der Hausnarr des Ottavio Piccolomini, der die Abenteuer
seines vielbewegten Lebens im Jahre 1645 beschrieb, die Stadt
Avignon betreten wollte, schössen die Thorwächter zweimal auf
ihn und zwangen ihn, weil er keinen Gesnndheitspaß (oolstA as
8g,iMg,ä) hatte, zu schleuniger Umkehr; auch Lyon hatte der Pest
wegen seine Thore geschlossen — kurz, es ging damals in Frankreich ebenso zu,
wie im vergangenen Sommer in Italien, wo die Eisenbahnzüge nicht nur in
Unteritalien, sondern einmal sogar in Civitavecchia mit Kugeln oder Steinen
empfangen wurden, und ein Reisender, der Orvieto besuchen wollte, am ersten
Thore abgewiesen, rund um die Stadt ging, ohne Einlaß zu finden.

Italien ist für so unzählige Deutsche das Land der Verheißung, daß man
gern mich bei längerem Aufenthalte über Mängel hinwegsieht, welche man in
der Heimat als unerträglich empfinden würde. Kommt aber eine besonders
starke Aufregung in das Volk, wie es die Cholerafurcht in den Monaten
Juli bis September war, so treten Züge weniger des Volkscharakters als
der staatlichen Einrichtungen so offen zu tage, daß man plötzlich im Mittelalter
zu stehen meint, und der schöne Traum staatlicher Einheit und gesetzmäßiger
Regierung mit einem Schlage zerstört wird.

Der Hauptgrund für die Erscheinungen, welche alle einsichtigen Italiener
ebenso wie die wahren Freunde des Landes mit der größten Besorgnis für die
gesunde Entwicklung Italiens erfüllten, liegt in der Schwäche der Regierung.
Die Advokaten, welche das wechselnde Spiel der parlamentarischen Majoritäten
augenblicklich ans die Miuisterstühle gehoben hatte, brachten erst der öffentlichen
Feigheit die Landquarantäne zum Geschenk, dann gestatteten sie der lokalen
Furcht und der wilden munizipcilen Selbstsucht, die ganzen Verhältnisse des
Landes zu zerrütten. Als der heftige Ausbruch in Spezia erfolgt war, schlössen
zahlreiche Städte ihre Thore. Man hätte glauben sollen, daß der erste Sindaco,
der sich unterstand, die Landesgesetze in so frecher Weise zu übertreten, von
dem Minister des Innern sofort telegraphisch abgesetzt werden würde. Aber
nein: der Minister wartete vierzehn Tage, das heißt er wünschte die öffentliche
Meinung kennen zu lernen, und endlich, als alle anständigen Zeitungen die
städtischen Absperrungen in den stärksten Ausdrücken verdammten, erließ sein
Generalsekretär Mornna ein Zirkular, wonach die munizipalc Jsolirung nicht
etwa völlig verboten, sondern nur beschränkt und den Gemeinden gestattet wurde,


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[0412] Italienische Zustände. is der Hausnarr des Ottavio Piccolomini, der die Abenteuer seines vielbewegten Lebens im Jahre 1645 beschrieb, die Stadt Avignon betreten wollte, schössen die Thorwächter zweimal auf ihn und zwangen ihn, weil er keinen Gesnndheitspaß (oolstA as 8g,iMg,ä) hatte, zu schleuniger Umkehr; auch Lyon hatte der Pest wegen seine Thore geschlossen — kurz, es ging damals in Frankreich ebenso zu, wie im vergangenen Sommer in Italien, wo die Eisenbahnzüge nicht nur in Unteritalien, sondern einmal sogar in Civitavecchia mit Kugeln oder Steinen empfangen wurden, und ein Reisender, der Orvieto besuchen wollte, am ersten Thore abgewiesen, rund um die Stadt ging, ohne Einlaß zu finden. Italien ist für so unzählige Deutsche das Land der Verheißung, daß man gern mich bei längerem Aufenthalte über Mängel hinwegsieht, welche man in der Heimat als unerträglich empfinden würde. Kommt aber eine besonders starke Aufregung in das Volk, wie es die Cholerafurcht in den Monaten Juli bis September war, so treten Züge weniger des Volkscharakters als der staatlichen Einrichtungen so offen zu tage, daß man plötzlich im Mittelalter zu stehen meint, und der schöne Traum staatlicher Einheit und gesetzmäßiger Regierung mit einem Schlage zerstört wird. Der Hauptgrund für die Erscheinungen, welche alle einsichtigen Italiener ebenso wie die wahren Freunde des Landes mit der größten Besorgnis für die gesunde Entwicklung Italiens erfüllten, liegt in der Schwäche der Regierung. Die Advokaten, welche das wechselnde Spiel der parlamentarischen Majoritäten augenblicklich ans die Miuisterstühle gehoben hatte, brachten erst der öffentlichen Feigheit die Landquarantäne zum Geschenk, dann gestatteten sie der lokalen Furcht und der wilden munizipcilen Selbstsucht, die ganzen Verhältnisse des Landes zu zerrütten. Als der heftige Ausbruch in Spezia erfolgt war, schlössen zahlreiche Städte ihre Thore. Man hätte glauben sollen, daß der erste Sindaco, der sich unterstand, die Landesgesetze in so frecher Weise zu übertreten, von dem Minister des Innern sofort telegraphisch abgesetzt werden würde. Aber nein: der Minister wartete vierzehn Tage, das heißt er wünschte die öffentliche Meinung kennen zu lernen, und endlich, als alle anständigen Zeitungen die städtischen Absperrungen in den stärksten Ausdrücken verdammten, erließ sein Generalsekretär Mornna ein Zirkular, wonach die munizipalc Jsolirung nicht etwa völlig verboten, sondern nur beschränkt und den Gemeinden gestattet wurde,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/412>, abgerufen am 27.12.2024.