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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Neue Gedichte.

Mich unlöblichem Brauch folgend überschwemmt der deutsche Buch¬
handel in diesem wie in jedem früheren Jahre den Weihnachts¬
markt mit Sammlungen lyrischer Gedichte, von denen angenommen
wird, daß sie um die Festzeit, in festlichem Gewände auftretend,
Häuser und Herzen offener finden werden als das ganze Jahr hin¬
durch. Unter den Herzen aber, die sich erschließen sollen, stehen die der Herren
Kritiker voran. Es ist hergebracht, daß die modernen Feuilleton-Rhadamanteu,
welche elf Monate hindurch mir die kühlste Geringschätzung lyrischer Unmündigkeit
zur Schau tragen, im Dezember ihre Gemüter erweichen und mit ein paar loben¬
den Phrasen alles, was ihnen in Goldschnitt, elegant gebunden, gereimt und auch
ungereimt auf den Schreibtisch geworfen wird, den Börsen der Weihnachtskäufer
und den laulich-empfänglichen Stimmungen des zweiten und dritten Festtages
empfehlen. Es liegt eine unbegrenzte Gleichgiltigkeit in diesem Weihnachts¬
berichtton, der Wahl- und kritiklos Vorzügliches und schlechthin Abgeschmacktes
bunt durcheinander empfiehlt und den Einbänden von vornherein größeres Ge¬
wicht einräumt als dem Inhalt, was freilich oft genug zutreffen mag. Die
Grenzboten haben sich zu wiederholtenmalen gegen diese Unsitte erklärt, welche
der Produktion und Kritik gleich schädlich ist. Es giebt keine Stunde im Jahre,
zu der schlechte Gedichte erquicklicher wären als zu jeder Zeit. Und andrerseits
geben die äußersten Greuel des lyrischen Dilettantismus der Kritik kein Recht,
sich die Prüfung der lyrischen Dichtung, deren die poetische Literatur unter
allen Umständen nicht entraten kaun, vornehm zu schenken. Bellmans in Freytags
"Journalisten" und Frau Pastor Jäger in SpielhagcuS "Problematischen Naturen,"
die vielbelachte Verfasserin des Liedes "Ans einen toten Maulwurf," sind ja
recht ergötzliche Figuren, aber die Annahme, daß alle Lyriker Bellmans und
Frau Pastor Jäger glichen, ist auch einer jener ungeheuern Bären, welche sich die
verehrliche "öffentliche Meinung" mit besonderm Wohlgefallen aufbinden läßt.

Unsre Weihnachtsschau auf dem Felde der Lyrik umfaßt alles, was sich in
den letzten Monaten angesammelt hat; wir beschränken uns darauf, den immerhin
subjektiven Eindruck wiederzugeben, welchen die verschiedenen lyrischen Samm¬
lungen und lyrisch-epischen Dichtungen hervorgerufen haben. Der Leser, der
für Weihnachtszwecke den kritischen Bericht über die neueste deutsche Lyrik durch¬
fliegt, wird dann schon wissen, was sich für ihn am besten eignet.

Eine lyrische Gabe befindet sich unter den vielen vorliegenden^), die



*) Zwei der hier zur Besprechung kommenden Sammlungen sind vor kurzem schon von
andern Seiten in den Grenzboten empfohlen worden.' die Gedichte von M. Carriere und von
I. G. Fischer.
Neue Gedichte.

Mich unlöblichem Brauch folgend überschwemmt der deutsche Buch¬
handel in diesem wie in jedem früheren Jahre den Weihnachts¬
markt mit Sammlungen lyrischer Gedichte, von denen angenommen
wird, daß sie um die Festzeit, in festlichem Gewände auftretend,
Häuser und Herzen offener finden werden als das ganze Jahr hin¬
durch. Unter den Herzen aber, die sich erschließen sollen, stehen die der Herren
Kritiker voran. Es ist hergebracht, daß die modernen Feuilleton-Rhadamanteu,
welche elf Monate hindurch mir die kühlste Geringschätzung lyrischer Unmündigkeit
zur Schau tragen, im Dezember ihre Gemüter erweichen und mit ein paar loben¬
den Phrasen alles, was ihnen in Goldschnitt, elegant gebunden, gereimt und auch
ungereimt auf den Schreibtisch geworfen wird, den Börsen der Weihnachtskäufer
und den laulich-empfänglichen Stimmungen des zweiten und dritten Festtages
empfehlen. Es liegt eine unbegrenzte Gleichgiltigkeit in diesem Weihnachts¬
berichtton, der Wahl- und kritiklos Vorzügliches und schlechthin Abgeschmacktes
bunt durcheinander empfiehlt und den Einbänden von vornherein größeres Ge¬
wicht einräumt als dem Inhalt, was freilich oft genug zutreffen mag. Die
Grenzboten haben sich zu wiederholtenmalen gegen diese Unsitte erklärt, welche
der Produktion und Kritik gleich schädlich ist. Es giebt keine Stunde im Jahre,
zu der schlechte Gedichte erquicklicher wären als zu jeder Zeit. Und andrerseits
geben die äußersten Greuel des lyrischen Dilettantismus der Kritik kein Recht,
sich die Prüfung der lyrischen Dichtung, deren die poetische Literatur unter
allen Umständen nicht entraten kaun, vornehm zu schenken. Bellmans in Freytags
„Journalisten" und Frau Pastor Jäger in SpielhagcuS „Problematischen Naturen,"
die vielbelachte Verfasserin des Liedes „Ans einen toten Maulwurf," sind ja
recht ergötzliche Figuren, aber die Annahme, daß alle Lyriker Bellmans und
Frau Pastor Jäger glichen, ist auch einer jener ungeheuern Bären, welche sich die
verehrliche „öffentliche Meinung" mit besonderm Wohlgefallen aufbinden läßt.

Unsre Weihnachtsschau auf dem Felde der Lyrik umfaßt alles, was sich in
den letzten Monaten angesammelt hat; wir beschränken uns darauf, den immerhin
subjektiven Eindruck wiederzugeben, welchen die verschiedenen lyrischen Samm¬
lungen und lyrisch-epischen Dichtungen hervorgerufen haben. Der Leser, der
für Weihnachtszwecke den kritischen Bericht über die neueste deutsche Lyrik durch¬
fliegt, wird dann schon wissen, was sich für ihn am besten eignet.

Eine lyrische Gabe befindet sich unter den vielen vorliegenden^), die



*) Zwei der hier zur Besprechung kommenden Sammlungen sind vor kurzem schon von
andern Seiten in den Grenzboten empfohlen worden.' die Gedichte von M. Carriere und von
I. G. Fischer.
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[0684] Neue Gedichte. Mich unlöblichem Brauch folgend überschwemmt der deutsche Buch¬ handel in diesem wie in jedem früheren Jahre den Weihnachts¬ markt mit Sammlungen lyrischer Gedichte, von denen angenommen wird, daß sie um die Festzeit, in festlichem Gewände auftretend, Häuser und Herzen offener finden werden als das ganze Jahr hin¬ durch. Unter den Herzen aber, die sich erschließen sollen, stehen die der Herren Kritiker voran. Es ist hergebracht, daß die modernen Feuilleton-Rhadamanteu, welche elf Monate hindurch mir die kühlste Geringschätzung lyrischer Unmündigkeit zur Schau tragen, im Dezember ihre Gemüter erweichen und mit ein paar loben¬ den Phrasen alles, was ihnen in Goldschnitt, elegant gebunden, gereimt und auch ungereimt auf den Schreibtisch geworfen wird, den Börsen der Weihnachtskäufer und den laulich-empfänglichen Stimmungen des zweiten und dritten Festtages empfehlen. Es liegt eine unbegrenzte Gleichgiltigkeit in diesem Weihnachts¬ berichtton, der Wahl- und kritiklos Vorzügliches und schlechthin Abgeschmacktes bunt durcheinander empfiehlt und den Einbänden von vornherein größeres Ge¬ wicht einräumt als dem Inhalt, was freilich oft genug zutreffen mag. Die Grenzboten haben sich zu wiederholtenmalen gegen diese Unsitte erklärt, welche der Produktion und Kritik gleich schädlich ist. Es giebt keine Stunde im Jahre, zu der schlechte Gedichte erquicklicher wären als zu jeder Zeit. Und andrerseits geben die äußersten Greuel des lyrischen Dilettantismus der Kritik kein Recht, sich die Prüfung der lyrischen Dichtung, deren die poetische Literatur unter allen Umständen nicht entraten kaun, vornehm zu schenken. Bellmans in Freytags „Journalisten" und Frau Pastor Jäger in SpielhagcuS „Problematischen Naturen," die vielbelachte Verfasserin des Liedes „Ans einen toten Maulwurf," sind ja recht ergötzliche Figuren, aber die Annahme, daß alle Lyriker Bellmans und Frau Pastor Jäger glichen, ist auch einer jener ungeheuern Bären, welche sich die verehrliche „öffentliche Meinung" mit besonderm Wohlgefallen aufbinden läßt. Unsre Weihnachtsschau auf dem Felde der Lyrik umfaßt alles, was sich in den letzten Monaten angesammelt hat; wir beschränken uns darauf, den immerhin subjektiven Eindruck wiederzugeben, welchen die verschiedenen lyrischen Samm¬ lungen und lyrisch-epischen Dichtungen hervorgerufen haben. Der Leser, der für Weihnachtszwecke den kritischen Bericht über die neueste deutsche Lyrik durch¬ fliegt, wird dann schon wissen, was sich für ihn am besten eignet. Eine lyrische Gabe befindet sich unter den vielen vorliegenden^), die *) Zwei der hier zur Besprechung kommenden Sammlungen sind vor kurzem schon von andern Seiten in den Grenzboten empfohlen worden.' die Gedichte von M. Carriere und von I. G. Fischer.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/684>, abgerufen am 27.07.2024.