Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

Von vornherein und ohne Frage den erstell Platz zu beanspruchen hat. Es
sind die Gesammelten Gedichte von Gottfried Keller (Berlin, Wilhelm
Hertz) in denen der Dichter des "Grünen Heinrich" und der "Leute von
Seldwyla" die beiden früheren Sammlungen seiner Gedichte von 1846 und
1851 mit den zahlreichen Dichtungen vereinigt hat, welche seitdem teils bei ver¬
schiedenen Anlässen hervorgetreten, teils ungedruckt geblieben sind. Bei dem
großen Publikum, welches Geibel, Theodor Storm und andre der allgemeinen
Empfindung näherstehende Dichter bevorzugt, werden diese Zeugnisse eines ernsten,
geistig tiefbewegten und auch äußerlich sturmreichen Dichterlebens schwerlich
auf Sympathie oder auch nur auf Verständnis zu rechnen haben. Gottfried
Keller ist kein Lyriker in jenem engsten Sinne, den man der Lyrik nach und
nach gegeben hat, kein Liederdichter, dessen Lieder an das Volkslied unmittel¬
bar anknüpfen, kein seliger Träumer, an den die Reflexion nur soweit heran¬
tritt, als sie sich in frohe oder schmerzliche Stimmung wandeln läßt, vor allem
keiner jener Sprachvirtnosen, welche weit eher die Deutlichkeit und Eigenart des
Ausdrucks als den WvlMang des Verses opfern. In Kellers "Gedichten"
machen sich eine trotzige Selbständigkeit der Empfindung, eine zu Zeiten be¬
fremdende Anschauung der Welt, die von Verklärung weit entfernt ist, eine
besondre Behandlung, ein gelegentlich heißes Ringen mit der Sprache geltend,
die im einzelnen Falle freilich die höchsten poetischen, rhythmischen und melodischen
Wirkungen erreichen, in andern jedoch einen Nachgeschmack hinterlassen, der nur
dem Nachgeschmack starken, duftigen, aber herben Weines zu vergleichen ist. Die
knorrige Originalität, die in gewisse poetische Tiefen hinabsteigt, in die andre
Dichter kaum einen scheuen Blick werfen, die gewisse Höhen erklimmt, auf denen
die Luft für den Durchschnittsleser dünn wird, tritt hier noch stärker und ent¬
schiedener hervor als in den Erzählungen des Dichters. Lebensfrisch und dunkel-
grüblerisch, geistblitzcnd und voll schlichten Ernstes, herausfordernd, keck und
zartsinnig, scheu und zurückhaltend stellt sich Gottfried Keller in seinen Gedichten
dar, alle Töne schlägt er ein- und das andremal, keinen so wiederholt an, daß
er für die große Menge ein Lyriker mit einem bestimmten Tone wäre. Man
muß schon Teilnahme für ein mannichfach bewegtes, von den Gährungen der
Zeit ergriffenes, in seinen Kämpfen geprüftes und bewährtes Dasei" empfinden,
um sich ganz in diese "Gedichte" versenken zu können. Dicht neben den reifsten
Schöpfungen, in denen ein tiefsinniger Gedanke.vollendet poetische Form ge¬
winnt, in denen die Phantasie des Dichters leuchtende Schönheit schaut oder
der köstlichste Humor die Unzulänglichkeit des Irdischen erhellt, stehen andre,
in denen der absonderliche Einfall umsonst Gedanke zu werden strebt, in
denen die Einbildungskraft Kellers wild ausschweift und wie in dem Cyklus
"Lebendig begraben" selbst die granenhaftesten Möglichkeiten des Daseins poetisch
zu fassen und den Aufschrei der zertretenen Tierheit in menschlichen Laut zu
wandeln sucht, stehen solche, deren Humor gar dünn und ansäncrlich ist. Nichts


Von vornherein und ohne Frage den erstell Platz zu beanspruchen hat. Es
sind die Gesammelten Gedichte von Gottfried Keller (Berlin, Wilhelm
Hertz) in denen der Dichter des „Grünen Heinrich" und der „Leute von
Seldwyla" die beiden früheren Sammlungen seiner Gedichte von 1846 und
1851 mit den zahlreichen Dichtungen vereinigt hat, welche seitdem teils bei ver¬
schiedenen Anlässen hervorgetreten, teils ungedruckt geblieben sind. Bei dem
großen Publikum, welches Geibel, Theodor Storm und andre der allgemeinen
Empfindung näherstehende Dichter bevorzugt, werden diese Zeugnisse eines ernsten,
geistig tiefbewegten und auch äußerlich sturmreichen Dichterlebens schwerlich
auf Sympathie oder auch nur auf Verständnis zu rechnen haben. Gottfried
Keller ist kein Lyriker in jenem engsten Sinne, den man der Lyrik nach und
nach gegeben hat, kein Liederdichter, dessen Lieder an das Volkslied unmittel¬
bar anknüpfen, kein seliger Träumer, an den die Reflexion nur soweit heran¬
tritt, als sie sich in frohe oder schmerzliche Stimmung wandeln läßt, vor allem
keiner jener Sprachvirtnosen, welche weit eher die Deutlichkeit und Eigenart des
Ausdrucks als den WvlMang des Verses opfern. In Kellers „Gedichten"
machen sich eine trotzige Selbständigkeit der Empfindung, eine zu Zeiten be¬
fremdende Anschauung der Welt, die von Verklärung weit entfernt ist, eine
besondre Behandlung, ein gelegentlich heißes Ringen mit der Sprache geltend,
die im einzelnen Falle freilich die höchsten poetischen, rhythmischen und melodischen
Wirkungen erreichen, in andern jedoch einen Nachgeschmack hinterlassen, der nur
dem Nachgeschmack starken, duftigen, aber herben Weines zu vergleichen ist. Die
knorrige Originalität, die in gewisse poetische Tiefen hinabsteigt, in die andre
Dichter kaum einen scheuen Blick werfen, die gewisse Höhen erklimmt, auf denen
die Luft für den Durchschnittsleser dünn wird, tritt hier noch stärker und ent¬
schiedener hervor als in den Erzählungen des Dichters. Lebensfrisch und dunkel-
grüblerisch, geistblitzcnd und voll schlichten Ernstes, herausfordernd, keck und
zartsinnig, scheu und zurückhaltend stellt sich Gottfried Keller in seinen Gedichten
dar, alle Töne schlägt er ein- und das andremal, keinen so wiederholt an, daß
er für die große Menge ein Lyriker mit einem bestimmten Tone wäre. Man
muß schon Teilnahme für ein mannichfach bewegtes, von den Gährungen der
Zeit ergriffenes, in seinen Kämpfen geprüftes und bewährtes Dasei» empfinden,
um sich ganz in diese „Gedichte" versenken zu können. Dicht neben den reifsten
Schöpfungen, in denen ein tiefsinniger Gedanke.vollendet poetische Form ge¬
winnt, in denen die Phantasie des Dichters leuchtende Schönheit schaut oder
der köstlichste Humor die Unzulänglichkeit des Irdischen erhellt, stehen andre,
in denen der absonderliche Einfall umsonst Gedanke zu werden strebt, in
denen die Einbildungskraft Kellers wild ausschweift und wie in dem Cyklus
„Lebendig begraben" selbst die granenhaftesten Möglichkeiten des Daseins poetisch
zu fassen und den Aufschrei der zertretenen Tierheit in menschlichen Laut zu
wandeln sucht, stehen solche, deren Humor gar dünn und ansäncrlich ist. Nichts


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0685" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/154850"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_2046" prev="#ID_2045" next="#ID_2047"> Von vornherein und ohne Frage den erstell Platz zu beanspruchen hat. Es<lb/>
sind die Gesammelten Gedichte von Gottfried Keller (Berlin, Wilhelm<lb/>
Hertz) in denen der Dichter des &#x201E;Grünen Heinrich" und der &#x201E;Leute von<lb/>
Seldwyla" die beiden früheren Sammlungen seiner Gedichte von 1846 und<lb/>
1851 mit den zahlreichen Dichtungen vereinigt hat, welche seitdem teils bei ver¬<lb/>
schiedenen Anlässen hervorgetreten, teils ungedruckt geblieben sind. Bei dem<lb/>
großen Publikum, welches Geibel, Theodor Storm und andre der allgemeinen<lb/>
Empfindung näherstehende Dichter bevorzugt, werden diese Zeugnisse eines ernsten,<lb/>
geistig tiefbewegten und auch äußerlich sturmreichen Dichterlebens schwerlich<lb/>
auf Sympathie oder auch nur auf Verständnis zu rechnen haben. Gottfried<lb/>
Keller ist kein Lyriker in jenem engsten Sinne, den man der Lyrik nach und<lb/>
nach gegeben hat, kein Liederdichter, dessen Lieder an das Volkslied unmittel¬<lb/>
bar anknüpfen, kein seliger Träumer, an den die Reflexion nur soweit heran¬<lb/>
tritt, als sie sich in frohe oder schmerzliche Stimmung wandeln läßt, vor allem<lb/>
keiner jener Sprachvirtnosen, welche weit eher die Deutlichkeit und Eigenart des<lb/>
Ausdrucks als den WvlMang des Verses opfern. In Kellers &#x201E;Gedichten"<lb/>
machen sich eine trotzige Selbständigkeit der Empfindung, eine zu Zeiten be¬<lb/>
fremdende Anschauung der Welt, die von Verklärung weit entfernt ist, eine<lb/>
besondre Behandlung, ein gelegentlich heißes Ringen mit der Sprache geltend,<lb/>
die im einzelnen Falle freilich die höchsten poetischen, rhythmischen und melodischen<lb/>
Wirkungen erreichen, in andern jedoch einen Nachgeschmack hinterlassen, der nur<lb/>
dem Nachgeschmack starken, duftigen, aber herben Weines zu vergleichen ist. Die<lb/>
knorrige Originalität, die in gewisse poetische Tiefen hinabsteigt, in die andre<lb/>
Dichter kaum einen scheuen Blick werfen, die gewisse Höhen erklimmt, auf denen<lb/>
die Luft für den Durchschnittsleser dünn wird, tritt hier noch stärker und ent¬<lb/>
schiedener hervor als in den Erzählungen des Dichters. Lebensfrisch und dunkel-<lb/>
grüblerisch, geistblitzcnd und voll schlichten Ernstes, herausfordernd, keck und<lb/>
zartsinnig, scheu und zurückhaltend stellt sich Gottfried Keller in seinen Gedichten<lb/>
dar, alle Töne schlägt er ein- und das andremal, keinen so wiederholt an, daß<lb/>
er für die große Menge ein Lyriker mit einem bestimmten Tone wäre. Man<lb/>
muß schon Teilnahme für ein mannichfach bewegtes, von den Gährungen der<lb/>
Zeit ergriffenes, in seinen Kämpfen geprüftes und bewährtes Dasei» empfinden,<lb/>
um sich ganz in diese &#x201E;Gedichte" versenken zu können. Dicht neben den reifsten<lb/>
Schöpfungen, in denen ein tiefsinniger Gedanke.vollendet poetische Form ge¬<lb/>
winnt, in denen die Phantasie des Dichters leuchtende Schönheit schaut oder<lb/>
der köstlichste Humor die Unzulänglichkeit des Irdischen erhellt, stehen andre,<lb/>
in denen der absonderliche Einfall umsonst Gedanke zu werden strebt, in<lb/>
denen die Einbildungskraft Kellers wild ausschweift und wie in dem Cyklus<lb/>
&#x201E;Lebendig begraben" selbst die granenhaftesten Möglichkeiten des Daseins poetisch<lb/>
zu fassen und den Aufschrei der zertretenen Tierheit in menschlichen Laut zu<lb/>
wandeln sucht, stehen solche, deren Humor gar dünn und ansäncrlich ist. Nichts</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0685] Von vornherein und ohne Frage den erstell Platz zu beanspruchen hat. Es sind die Gesammelten Gedichte von Gottfried Keller (Berlin, Wilhelm Hertz) in denen der Dichter des „Grünen Heinrich" und der „Leute von Seldwyla" die beiden früheren Sammlungen seiner Gedichte von 1846 und 1851 mit den zahlreichen Dichtungen vereinigt hat, welche seitdem teils bei ver¬ schiedenen Anlässen hervorgetreten, teils ungedruckt geblieben sind. Bei dem großen Publikum, welches Geibel, Theodor Storm und andre der allgemeinen Empfindung näherstehende Dichter bevorzugt, werden diese Zeugnisse eines ernsten, geistig tiefbewegten und auch äußerlich sturmreichen Dichterlebens schwerlich auf Sympathie oder auch nur auf Verständnis zu rechnen haben. Gottfried Keller ist kein Lyriker in jenem engsten Sinne, den man der Lyrik nach und nach gegeben hat, kein Liederdichter, dessen Lieder an das Volkslied unmittel¬ bar anknüpfen, kein seliger Träumer, an den die Reflexion nur soweit heran¬ tritt, als sie sich in frohe oder schmerzliche Stimmung wandeln läßt, vor allem keiner jener Sprachvirtnosen, welche weit eher die Deutlichkeit und Eigenart des Ausdrucks als den WvlMang des Verses opfern. In Kellers „Gedichten" machen sich eine trotzige Selbständigkeit der Empfindung, eine zu Zeiten be¬ fremdende Anschauung der Welt, die von Verklärung weit entfernt ist, eine besondre Behandlung, ein gelegentlich heißes Ringen mit der Sprache geltend, die im einzelnen Falle freilich die höchsten poetischen, rhythmischen und melodischen Wirkungen erreichen, in andern jedoch einen Nachgeschmack hinterlassen, der nur dem Nachgeschmack starken, duftigen, aber herben Weines zu vergleichen ist. Die knorrige Originalität, die in gewisse poetische Tiefen hinabsteigt, in die andre Dichter kaum einen scheuen Blick werfen, die gewisse Höhen erklimmt, auf denen die Luft für den Durchschnittsleser dünn wird, tritt hier noch stärker und ent¬ schiedener hervor als in den Erzählungen des Dichters. Lebensfrisch und dunkel- grüblerisch, geistblitzcnd und voll schlichten Ernstes, herausfordernd, keck und zartsinnig, scheu und zurückhaltend stellt sich Gottfried Keller in seinen Gedichten dar, alle Töne schlägt er ein- und das andremal, keinen so wiederholt an, daß er für die große Menge ein Lyriker mit einem bestimmten Tone wäre. Man muß schon Teilnahme für ein mannichfach bewegtes, von den Gährungen der Zeit ergriffenes, in seinen Kämpfen geprüftes und bewährtes Dasei» empfinden, um sich ganz in diese „Gedichte" versenken zu können. Dicht neben den reifsten Schöpfungen, in denen ein tiefsinniger Gedanke.vollendet poetische Form ge¬ winnt, in denen die Phantasie des Dichters leuchtende Schönheit schaut oder der köstlichste Humor die Unzulänglichkeit des Irdischen erhellt, stehen andre, in denen der absonderliche Einfall umsonst Gedanke zu werden strebt, in denen die Einbildungskraft Kellers wild ausschweift und wie in dem Cyklus „Lebendig begraben" selbst die granenhaftesten Möglichkeiten des Daseins poetisch zu fassen und den Aufschrei der zertretenen Tierheit in menschlichen Laut zu wandeln sucht, stehen solche, deren Humor gar dünn und ansäncrlich ist. Nichts

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/685
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/685>, abgerufen am 27.07.2024.