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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Francesca von Rimini.

Gruppen trafen dagegen wieder bei der Betrachtung einer der ungezählten
Nymphen, Göttinnen und sonstigen nackten Figurinen zusammen, die in der Aus¬
stellung über Gebühr die Augen der Besucher auf sich zogen. Mit der Erklärung,
daß der Künstler nnr das Schöne darzustellen habe, das Schönste aber der
menschliche Körper sei, wie ihn die Nntnr ohne jede Hülle zeige, war jeder
Angriff ans die Schamhaftigkeit und jede Hohlheit des Gedankens gerechtfertigt.
Daß sich auch Dr. Spath zu dieser Theorie bekannte, die in dem "Berliner
Barbier" nach dem Beispiel seines Pariser Kollegen ihre Hauptvertretung fand,
ist selbstverständlich. Frau Bertha Genvve meinte, daß sie bei dem Anblick des
Nackten niemals die Nacktheit sehe -- eine Bemerkung, die von ihrem Führer
als eine höchst geistvolle Charakteristik bezeichnet wurde. Die beiden Mädchen,
welche ebenfalls bei den Malern Peschke und Russow Zeichenunterricht hatten
und nicht mehr bloß in Kohle, sondern auch schon in Öl malten, kritisirten ohne
Umschweife die Zeichnung und fanden bald, daß die linke Hüfte zu hoch, bald
daß das Becken zu eng sei und was dergleichen Kunstäußerungen mehr waren,
wobei Dr. Spath nicht selten mit dem Fächer von Frau Geneve die Konturen
in der Luft hart an den Bildern nachzeichnete. Nur der alte Herr Gcimve
schwieg und schmunzelte, in umso größeren Entzücken über die Talente von
Fran und Tochter, je weniger er ihre Erörterungen verstand. Wieder waren
die Mädchen vorausgeeilt, als sie plötzlich vor einem Bilde stehen blieben.
Kaum hatte Elfe die Worte.- Das bist du, Grete! ausgestoßen, als Margarethe
mit einem leisen Schrei ohnmächtig zusammenbrach. Die Eltern und Dr. Spath
eilten herbei, es entstand unter den Besuchern eine gewisse Aufregung, und erst
den Bemühungen einiger Damen gelang es, das Mädchen wieder zur Besinnung
zu bringen. Als sie erwachte, war ihr erstes Wort: Oswald. Frau Genvve
sah sich erschreckt um, beruhigte sich aber bald, als sie keinen ihr bekannten
Träger dieses Namens entdecken konnte. Dagen fielen auch ihre Blicke auf das
Bild, und sie erkannte bald, daß die Menge ebenfalls auf die Ähnlichkeit ihrer
Tochter mit der im Bilde dargestellten Frauenerscheinung aufmerksam wurde.
Mit der ihr eignen Geistesgegenwart wurde ihr uicht nur die Ursache der OlM
macht, sondern auch die Notwendigkeit klar, ihre Tochter schnell dem weitern
Anblick des Bildes und der Aufmerksamkeit des Publikums zu entziehen. Von
Else unterstützt, führte sie die noch wankende Tochter aus dem Saale, während
Dr. Spath hinausgeschickt wurde, um den Wagen herbeizuholen.


2.

Ehe wir zu ermitteln suchen, welches die Ursache war, daß das blühende
in Gesundheit strahlende Fräulein Margarethe Gensve von dieser Ohnmacht be¬
fallen wurde, müssen wir uns ein wenig in der Geschichte ihres Hauses umthun.
Um die Früchte richtig zu schätzen, muß man auf Stamm und Wurzel zurück-


Francesca von Rimini.

Gruppen trafen dagegen wieder bei der Betrachtung einer der ungezählten
Nymphen, Göttinnen und sonstigen nackten Figurinen zusammen, die in der Aus¬
stellung über Gebühr die Augen der Besucher auf sich zogen. Mit der Erklärung,
daß der Künstler nnr das Schöne darzustellen habe, das Schönste aber der
menschliche Körper sei, wie ihn die Nntnr ohne jede Hülle zeige, war jeder
Angriff ans die Schamhaftigkeit und jede Hohlheit des Gedankens gerechtfertigt.
Daß sich auch Dr. Spath zu dieser Theorie bekannte, die in dem „Berliner
Barbier" nach dem Beispiel seines Pariser Kollegen ihre Hauptvertretung fand,
ist selbstverständlich. Frau Bertha Genvve meinte, daß sie bei dem Anblick des
Nackten niemals die Nacktheit sehe — eine Bemerkung, die von ihrem Führer
als eine höchst geistvolle Charakteristik bezeichnet wurde. Die beiden Mädchen,
welche ebenfalls bei den Malern Peschke und Russow Zeichenunterricht hatten
und nicht mehr bloß in Kohle, sondern auch schon in Öl malten, kritisirten ohne
Umschweife die Zeichnung und fanden bald, daß die linke Hüfte zu hoch, bald
daß das Becken zu eng sei und was dergleichen Kunstäußerungen mehr waren,
wobei Dr. Spath nicht selten mit dem Fächer von Frau Geneve die Konturen
in der Luft hart an den Bildern nachzeichnete. Nur der alte Herr Gcimve
schwieg und schmunzelte, in umso größeren Entzücken über die Talente von
Fran und Tochter, je weniger er ihre Erörterungen verstand. Wieder waren
die Mädchen vorausgeeilt, als sie plötzlich vor einem Bilde stehen blieben.
Kaum hatte Elfe die Worte.- Das bist du, Grete! ausgestoßen, als Margarethe
mit einem leisen Schrei ohnmächtig zusammenbrach. Die Eltern und Dr. Spath
eilten herbei, es entstand unter den Besuchern eine gewisse Aufregung, und erst
den Bemühungen einiger Damen gelang es, das Mädchen wieder zur Besinnung
zu bringen. Als sie erwachte, war ihr erstes Wort: Oswald. Frau Genvve
sah sich erschreckt um, beruhigte sich aber bald, als sie keinen ihr bekannten
Träger dieses Namens entdecken konnte. Dagen fielen auch ihre Blicke auf das
Bild, und sie erkannte bald, daß die Menge ebenfalls auf die Ähnlichkeit ihrer
Tochter mit der im Bilde dargestellten Frauenerscheinung aufmerksam wurde.
Mit der ihr eignen Geistesgegenwart wurde ihr uicht nur die Ursache der OlM
macht, sondern auch die Notwendigkeit klar, ihre Tochter schnell dem weitern
Anblick des Bildes und der Aufmerksamkeit des Publikums zu entziehen. Von
Else unterstützt, führte sie die noch wankende Tochter aus dem Saale, während
Dr. Spath hinausgeschickt wurde, um den Wagen herbeizuholen.


2.

Ehe wir zu ermitteln suchen, welches die Ursache war, daß das blühende
in Gesundheit strahlende Fräulein Margarethe Gensve von dieser Ohnmacht be¬
fallen wurde, müssen wir uns ein wenig in der Geschichte ihres Hauses umthun.
Um die Früchte richtig zu schätzen, muß man auf Stamm und Wurzel zurück-


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[0056] Francesca von Rimini. Gruppen trafen dagegen wieder bei der Betrachtung einer der ungezählten Nymphen, Göttinnen und sonstigen nackten Figurinen zusammen, die in der Aus¬ stellung über Gebühr die Augen der Besucher auf sich zogen. Mit der Erklärung, daß der Künstler nnr das Schöne darzustellen habe, das Schönste aber der menschliche Körper sei, wie ihn die Nntnr ohne jede Hülle zeige, war jeder Angriff ans die Schamhaftigkeit und jede Hohlheit des Gedankens gerechtfertigt. Daß sich auch Dr. Spath zu dieser Theorie bekannte, die in dem „Berliner Barbier" nach dem Beispiel seines Pariser Kollegen ihre Hauptvertretung fand, ist selbstverständlich. Frau Bertha Genvve meinte, daß sie bei dem Anblick des Nackten niemals die Nacktheit sehe — eine Bemerkung, die von ihrem Führer als eine höchst geistvolle Charakteristik bezeichnet wurde. Die beiden Mädchen, welche ebenfalls bei den Malern Peschke und Russow Zeichenunterricht hatten und nicht mehr bloß in Kohle, sondern auch schon in Öl malten, kritisirten ohne Umschweife die Zeichnung und fanden bald, daß die linke Hüfte zu hoch, bald daß das Becken zu eng sei und was dergleichen Kunstäußerungen mehr waren, wobei Dr. Spath nicht selten mit dem Fächer von Frau Geneve die Konturen in der Luft hart an den Bildern nachzeichnete. Nur der alte Herr Gcimve schwieg und schmunzelte, in umso größeren Entzücken über die Talente von Fran und Tochter, je weniger er ihre Erörterungen verstand. Wieder waren die Mädchen vorausgeeilt, als sie plötzlich vor einem Bilde stehen blieben. Kaum hatte Elfe die Worte.- Das bist du, Grete! ausgestoßen, als Margarethe mit einem leisen Schrei ohnmächtig zusammenbrach. Die Eltern und Dr. Spath eilten herbei, es entstand unter den Besuchern eine gewisse Aufregung, und erst den Bemühungen einiger Damen gelang es, das Mädchen wieder zur Besinnung zu bringen. Als sie erwachte, war ihr erstes Wort: Oswald. Frau Genvve sah sich erschreckt um, beruhigte sich aber bald, als sie keinen ihr bekannten Träger dieses Namens entdecken konnte. Dagen fielen auch ihre Blicke auf das Bild, und sie erkannte bald, daß die Menge ebenfalls auf die Ähnlichkeit ihrer Tochter mit der im Bilde dargestellten Frauenerscheinung aufmerksam wurde. Mit der ihr eignen Geistesgegenwart wurde ihr uicht nur die Ursache der OlM macht, sondern auch die Notwendigkeit klar, ihre Tochter schnell dem weitern Anblick des Bildes und der Aufmerksamkeit des Publikums zu entziehen. Von Else unterstützt, führte sie die noch wankende Tochter aus dem Saale, während Dr. Spath hinausgeschickt wurde, um den Wagen herbeizuholen. 2. Ehe wir zu ermitteln suchen, welches die Ursache war, daß das blühende in Gesundheit strahlende Fräulein Margarethe Gensve von dieser Ohnmacht be¬ fallen wurde, müssen wir uns ein wenig in der Geschichte ihres Hauses umthun. Um die Früchte richtig zu schätzen, muß man auf Stamm und Wurzel zurück-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/56>, abgerufen am 13.11.2024.