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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Unsre Parteien.

le vor kurzem vorgenommene Reichstagswahl in dem Wahlkreise
Greifswald-Grimmen hat die Frage über die Stellung der
Parteien zu einander wieder lebhaft angeregt. Man hat gefragt,
was dort wohl, abweichend von frühern Wahlen, dem freikonser¬
vativen Kandidaten dem fortschrittlichen gegenüber zum Siege
verholfen habe. Man hat namentlich die Frage gestellt, ob etwa die National¬
liberalen des Bezirks für den freikonservativen Kandidaten gestimmt haben.
Man hat für den Fall, daß dies geschehen, daraus Wider dieselben den Vor¬
wurf der Untreue gegen das liberale Prinzip erhoben.

Wir wissen nicht, wie die Nationalliberalen ihre Stimmen abgegeben
haben. Haben sie es aber zu Gunsten des freikonservativen Kandidaten gethan,
so haben sie damit nur den richtig erkannten Zielen ihrer Partei entsprechend
gehandelt.

Die politische Welt sollte doch aufhören, sich in zwei Lager zu teilen,
deren jedes das von ihm vertretene Prinzip, "liberal" oder "konservativ," als
das alleinseligmachende versieht. Die Dinge liegen in Wahrheit anders. Alle
besonnenen Politiker müssen die Überzeugung erlangt haben -- und die Er¬
fahrungen der letzten sechzehn Jahre sind in dieser Beziehung äußerst lehrreich
gewesen --, daß man weder mit abstrakt liberalen, noch mit abstrakt konservativen
Grundsätzen die Welt regieren kann. Beide Elemente des Staatslebens haben
ihre relative Berechtigung, und es kommt alles darauf an, sie in das rechte
Gleichgewicht zu stellen. Aus einem Kompromiß beider ist lange Jahre hindurch
die fruchtbringende Thätigkeit des norddeutschen Bundes und des deutschen
Reiches hervorgegangen. Allerdings hat bei dieser bis zum Jahre 1878 das


Grenzboten IV. 1883. 60


Unsre Parteien.

le vor kurzem vorgenommene Reichstagswahl in dem Wahlkreise
Greifswald-Grimmen hat die Frage über die Stellung der
Parteien zu einander wieder lebhaft angeregt. Man hat gefragt,
was dort wohl, abweichend von frühern Wahlen, dem freikonser¬
vativen Kandidaten dem fortschrittlichen gegenüber zum Siege
verholfen habe. Man hat namentlich die Frage gestellt, ob etwa die National¬
liberalen des Bezirks für den freikonservativen Kandidaten gestimmt haben.
Man hat für den Fall, daß dies geschehen, daraus Wider dieselben den Vor¬
wurf der Untreue gegen das liberale Prinzip erhoben.

Wir wissen nicht, wie die Nationalliberalen ihre Stimmen abgegeben
haben. Haben sie es aber zu Gunsten des freikonservativen Kandidaten gethan,
so haben sie damit nur den richtig erkannten Zielen ihrer Partei entsprechend
gehandelt.

Die politische Welt sollte doch aufhören, sich in zwei Lager zu teilen,
deren jedes das von ihm vertretene Prinzip, „liberal" oder „konservativ," als
das alleinseligmachende versieht. Die Dinge liegen in Wahrheit anders. Alle
besonnenen Politiker müssen die Überzeugung erlangt haben — und die Er¬
fahrungen der letzten sechzehn Jahre sind in dieser Beziehung äußerst lehrreich
gewesen —, daß man weder mit abstrakt liberalen, noch mit abstrakt konservativen
Grundsätzen die Welt regieren kann. Beide Elemente des Staatslebens haben
ihre relative Berechtigung, und es kommt alles darauf an, sie in das rechte
Gleichgewicht zu stellen. Aus einem Kompromiß beider ist lange Jahre hindurch
die fruchtbringende Thätigkeit des norddeutschen Bundes und des deutschen
Reiches hervorgegangen. Allerdings hat bei dieser bis zum Jahre 1878 das


Grenzboten IV. 1883. 60
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[0483] [Abbildung] Unsre Parteien. le vor kurzem vorgenommene Reichstagswahl in dem Wahlkreise Greifswald-Grimmen hat die Frage über die Stellung der Parteien zu einander wieder lebhaft angeregt. Man hat gefragt, was dort wohl, abweichend von frühern Wahlen, dem freikonser¬ vativen Kandidaten dem fortschrittlichen gegenüber zum Siege verholfen habe. Man hat namentlich die Frage gestellt, ob etwa die National¬ liberalen des Bezirks für den freikonservativen Kandidaten gestimmt haben. Man hat für den Fall, daß dies geschehen, daraus Wider dieselben den Vor¬ wurf der Untreue gegen das liberale Prinzip erhoben. Wir wissen nicht, wie die Nationalliberalen ihre Stimmen abgegeben haben. Haben sie es aber zu Gunsten des freikonservativen Kandidaten gethan, so haben sie damit nur den richtig erkannten Zielen ihrer Partei entsprechend gehandelt. Die politische Welt sollte doch aufhören, sich in zwei Lager zu teilen, deren jedes das von ihm vertretene Prinzip, „liberal" oder „konservativ," als das alleinseligmachende versieht. Die Dinge liegen in Wahrheit anders. Alle besonnenen Politiker müssen die Überzeugung erlangt haben — und die Er¬ fahrungen der letzten sechzehn Jahre sind in dieser Beziehung äußerst lehrreich gewesen —, daß man weder mit abstrakt liberalen, noch mit abstrakt konservativen Grundsätzen die Welt regieren kann. Beide Elemente des Staatslebens haben ihre relative Berechtigung, und es kommt alles darauf an, sie in das rechte Gleichgewicht zu stellen. Aus einem Kompromiß beider ist lange Jahre hindurch die fruchtbringende Thätigkeit des norddeutschen Bundes und des deutschen Reiches hervorgegangen. Allerdings hat bei dieser bis zum Jahre 1878 das Grenzboten IV. 1883. 60

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/483>, abgerufen am 27.07.2024.